Einverstanden mit Trump?

Martin Walsers Roman »Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist die Zeit der Hautschäden, der rauen Flecke und Verfärbungen, der strohigen Haare und des Verlustes auch aller weiteren Geschmeidigkeiten. Das Alter. Vielleicht ist jenes offenkundig Kindische, das jedes Altern in regelmäßigen Schüben begleitet, auch ein Ausdruck letzter beglückender Befreiung - von bisheriger Verantwortung. Aber sogar diese Heiterkeit des alten Menschen markiert etwas Verzweifeltes: Mag er lachen, wie er will, die Mundwinkel weisen abwärts zur Grube.

Der 90-jährige Martin Walser hat - wieder einmal - einen Roman über das Alter geschrieben. Über das Männliche, das unverwandt dem jungen Weibe begegnen will. Fiebrig. Fantasiegeschüttelt. Betthungrig. In der ganzen Erschütterlichkeit jener letzten Lebendigkeitsversuche, die so lächerlich wie tragisch, so vergeblich wie doch auch so rechtfertigungslos kreatürlich sind. Dorthin stellt der Autor seit geraumer Zeit seine Romanmenschen: wo sie längst alles haben und wo doch nichts mehr Bestand hat - und wo trotzdem das Wünschen wuchert. Jede Sekunde eine letzte; jeder Genuss ein unweigerliches Abschiedszittern, und doch ist da ein Illusionsschneewehen, als ginge alles noch, was in der Jugend ging. Nein, nicht, was ging; was stürmte, tobte.

Herr Mall liebt zwei Frauen, ist ihren Alleinvertretungsansprüchen ausgesetzt und schreibt befreiende, befreite Mails an eine Fremde. Die ersehnte Liebe zu dritt gebiert Einsamkeit, die sich eine Psycho-Projektionsfläche sucht - den Monitor des Laptops. Dieser Autor war schon immer ein Meister darin, sich angreifbar zu halten: mit Geilheit in Todesnähe, in einer schonungslosen Sprache der geträumten und wirklichen Erotik, und das ist so offen, wie man es allzu öffentlich gar nicht haben will; es ist gemischt aus literarischer Raffinesse und unzensierter Geständnisgier. Alles läuft auf Ungeschütztheit hin; das Schreiben als Risiko, nicht nur als Panzer. »Ich, das Fragezeichen nach einem gestrichenen Satz. Ich, ein Wille ohne einen Weg. Ich, die Null, vor der keine Zahl steht.«

Mall war Oberregierungsrat, er stolperte über das Begrapschen einer Praktikantin. Pikanterweise in der Pause einer Opernaufführung. Just Oper, dies Kraftwerk der Gefühle! Und überall junge Frauen, eine regelrechte »Anmacharmee«. Da »langt man eben eine Zehntelsekunde lang hin«. Walser beschreibt das Werk der Sehnsüchte, die rücksichtslos in Herrn Mall hineinfahren und nicht danach fragen, ob er noch für sie gemacht ist. Und ob sich das gehört, bei dem ihm Hören, aber nicht das Sehen vergeht. Lustvoll un-anständig gerät Walsers jüngstes Gericht über einen lebenslang behaupteten hohen Sinn von Dasein; am Ende der Männlichkeit aber bleibt nur - wie ein Rettungshecheln, das freilich ebenfalls scheitern muss - der wahrlich nackte Selbstbehauptungsreflex einer im Verwittern noch mal juckenden Biologie.

Dies Büchlein ist ein heiter erbarmungsloses Hineinsehen in eine Krampfader-Topografie des Schreckens, der da heißt: Die Gefühle bleiben jung; in jedem Mann lebt ein Professor Unrat, den Brüste und Blondheiten in vernunftblinde Blödheiten stürzen lassen. Aber die Blödheiten, und das ist das tief Menschliche an Walsers Werk, sind ja nicht nur Blödheiten, sondern Aufruhre gegen die Sittendrohkulisse, die uns zur Aufführung von ordentlichen Lebensläufen, also zur Ordnung ruft. In der jeder sich so zu verhalten hat, wie es seinem Alter gemäß sei?

Mitunter lassen die Mails von Mall an den Maler Neo Rauch denken, der kürzlich vom »gendersensiblen Bückling sprach«, der sofort »mit dem Fallbeil zur Hand« ist, wenn man sich weiblichen Körperregionen zuwendet, »die unterhalb des Rückens anschließen«. Überall »die Brandmarke des Sexismus oder Chauvinismus«, es sei verheerend, »sich auszurichten an den Meinungs- und Haltungsvorgaben des inquisitorischen Umfeldes«. Und der Schauspieler Fabian Hinrichs wehrte sich im Interview gegen eine Kunst der »flachen Wahrheiten, die nur Angebote sind, sofort damit einverstanden zu sein. Alle vermuten sich auf der richtigen Seite und bebildern einen Schulaufsatz«. Hauptsache, der Neoliberalismus passt in eine Schlagzeile, schon ist die Selbstgewissheit des kritisch gepolten Geistes zufrieden.

Von der »Tagesmoral« hat Walser in einem früheren Buch gesprochen - mittels derer wir unsere rührseligen, kitschigen, rosaroten Träume verschweigen, verdrehen, verharmlosen, sie »einordnen in die Seelenlandschaft, aus der auszubrechen geträumt worden war«. Es ist wieder einer jener unübertroffenen Walser-Sätze, die auch aus diesem Roman unzählige, scheinbar leicht hin- und eingeworfene Kurz-Essays machen. Und Aphorismen: »Man muss so tun, als könne man verzichten ... Um jemanden zu unterwerfen, muss man ihn nur loben ... Unter Haifischen darf man nicht bluten ... Ich würde, wenn ich könnte, wollen, dass ich kann.«

Es ist das bleibend Starke an Walser, dieser Reiz, der von ihm ausgeht: nicht einverstanden zu sein. Wie man mit diesem gesamten Ich-Erzähler nicht einverstanden sein kann. Der sogar Trump mag. »Dass er Sätze gesagt hat, die peinlich sind, hat mich für ihn eingenommen. Nicht weil dieses Sätze tatsächlich peinlich und unanständig waren, sondern weil er sie gesagt hat.« Nun sagt das nicht Walser, sondern der mailende Herr Mall. Aber das war schon immer Walsers Abenteuer: sich zu entblößen und damit jeden von draußen einzuladen, sich ihm gegenüber erhoben und erhaben zu fühlen. Das Spiel mit der Schutzlosigkeit, das ist eine Einladung für Spießruten. Fazit, nicht einhaltbar: »Was einen wirklich bewegt, ist immer etwas, was man besser verschweigt, auch vor sich selber.«

Die Komödie liegt im Aberwitz der Liebestollheit, Malls Tragödie liegt in der Allerweltsweisheit, dass jedes Ding sich nur zum Schlimmeren wenden kann. Walser ist ein sturer Erfinder mitten im Wirklichen; die Verächter, die sein Werk in Wadennähe begleiten, sind ihm egal. Und so perlen sich um Malls Briefe spitzgeistige Bestandsaufnahmen: müde Kulturschickeria und unglücklicher Wohlstand, matte Elite und künstlich aufgekratzte Intelligenzija, kruder Globalisierungsgeist und verstörter Innerlichkeitsbetrieb. Wahrheitstünche und Benehmenslüge. Es hat doch wirklich Zauber, wenn der Grapschbeamte, nunmehr auf immer im Berufsverbot, zum Philosophen wird und Bücher dieses Schlages schreibt: »Die Lüge als Mutter der Wahrheit«. Man liest und weiß Malls Glück: Man leidet an allem, woran man sehr leidet, weit weniger, wenn man ausdrücken kann, wie sehr man leidet.

»Gar alles.« Das ist natürlich zu viel. So entstehen Geschlagene, deren Sehnsuchtssiege trotzdem nicht aufzuhalten sind. Wie Faust, der in jedem Weibe Helena sieht. Auch der Teufel, der diesen Mall packt, ist ein Unterleibhaftiger. Das ist anschwellender Bocksgesang, natürlich ohne Echo. Also quälend jämmerlicher Ego-Prunk. Ein alter Mann, im Höhenflug, indem er hirnwärts noch immer die Hosen runterlässt. Auf allen Gebieten. Im Geist also ein Fleischesglühn, ohn Unterlass - die Offenheit sucht sich noch einmal letzte klare Worte. Und sei es Trump. Man lebt in Kleidung, in Verkleidung, die Hüllen fallen, aber zum wirklich schönen Anblick wird das nicht mehr. Könnte es nicht dennoch eine bleibend wünschbare Ahnung von schönem Leben sein, so weltfrontal so un-verschämt zu sein?

Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Rowohlt-Verlag Reinbek bei Hamburg, 107 S., geb., 18 €.

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