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Ruf nach Aufklärung

Festival »Infektion!« an der Staatsoper Berlin: Davide Carnevali inszenierte in der neuen Werkstatt »Ein Porträt des Künstlers als Toter«, Koproduktion der Staatsoper mit der Münchner Biennale

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Desaparecidos werden im Spanischen die Vermissten, die Verschwundenen genannt. Menschen verschwinden: Als überzählige Subjekte in den Augen der Täter enden sie in frischem Beton, explodierenden Autos, in den Gräben der Genickschussanlagen, effektiver in der Gaskammer. Körper, Seelen, ein für alle Mal unsichtbar gemacht. Tausenderlei Arten des Verschwindens kennt die neuere Geschichte. »Ein Porträt des Künstlers als Toter« erzählt von zwei Fällen und zweierlei Arten des Verschwindens. Das Stück verfolgt die Spuren, handgreifliche wie ideelle, welche zwei Musiker hinterließen. Das Material ist höchst brisant, es weist auf einen politischen Fall während der Zeit der argentinischen Militärjunta (1976-1983). Eine Phase, in der politische Gegner des Regimes beispiellos verfolgt wurden. Die Recherche ist freilich kein Kriminalfall, sondern führt zu einer fiktiven Person. Hier geht es um das Unsichtbare, dessen Aufhellung in ethische, philosophische, musikalische Sphären führt.

Die Wohnung des Verschwundenen ist der Hauptort. Dieser hieß Franco Bridarolli (so wie der 1991 geborene Komponist des Stückes) und verschwand 1977 in Argentinien von der Bildfläche. Vor Ort erinnert sich niemand mehr. Oder will sich erinnern. Der Fall ruhte und fiel wie unzählige andere dem Vergessen anheim. 40 Jahre später holte ihn Davide Carnevali, Regisseur und Autor des »Porträts«, aus den Katakomben der Geschichte. Er kramte in Gerichtsakten, erkundete den möglichen Ort des Verbrechens, recherchierte geografische, soziale, politische Umstände, unter der Bridarolli lebte und verschwand. Und er zog ein weiteres unbekanntes Komponistenschicksal hinzu, von dem gleichfalls nicht viel mehr als notierte Klänge übrig geblieben sind, daneben Zeitungsmeldungen über seine Musik. Sein Name: David Pasoski. Beider Biografien, zeitlich unweit auseinander, gleichen sich, in mancher Hinsicht auch ihre Art, zu komponieren. Der eine verschwand als Jude während der Nazidiktatur, der andere, Kompositionen des Juden bewahrend (er hielt sie im Klavier versteckt), durch offensichtliche Polizeigewalt im faschistischen Argentinien.

In diese Schicksale taucht Daniel Pintaudi, gebürtiger Italiener, 40 Jahre alt, Schauspieler und Musiker, mit allem ein, was ihm verfügbar ist und wozu er als Künstler taugt. Er ist mehr als der Porträtist. Mit Wörtern, Gesten, Mund, Fingern, dem Malstift, am Klavier, mit diversen Geräten geht der Mime an den Fall heran, ja wälzt sich in ihn hinein, als würde er an dessen Seilen hängen. Seine Recherche führt durch mehrere Räume. Das Publikum nimmt er aufs Höflichste mit. Immens, was er in den 90 Minuten als vielerlei Gedankennetzen verhafteter Performer leistet.

Der Propeller an der Decke dreht unentwegt. Es muss heiß sein im Apartment, in dem einmal der Komponist gewohnt hat und von dort verschwand. Niemand weiß, was genau passierte. Unordnung herrscht. Küche, Wäscheständer, Schreibtisch hinten, vorn in Reihe zwei Sessel, der eine umgestülpt, und Tisch, daneben zerwühlter Teppich, ein Klavier. Ort: ein Haus in Argentinien (Bühne, Kostüme: Charlotte Pistorius). Die drei Bücher auf dem Klavierdeckel schrieben Marx, Lenin, Marcuse, so die Auskunft des Performers. Der schmeißt sie zu Boden. Am Boden wirr durcheinander Partiturseiten, halb zerknüllte darunter.

Die Uhr tickt. An der Wand das Kofferradio, in gegebener Minute spielt es. Noten von Stockhausen, Ligeti und sonstigen Komponisten soll das Regal beherbergt haben, meint der Performer. Mit Elektronik weiß er gut aufzuwarten. Smartphone und Webcam ermöglichen ihm, Bilder und Klänge zu generieren und zu lenken. Bildschirme hängen rechts und links, sie verdoppeln Vorgänge und Objekte, das Piano etwa. Zu festgelegten Zeiten setzt er sich daran und spielt. Konzert in der Stube, im Privatbereich. Wenige gefärbte Saitenhalter im vorn offenen Klavier ergeben durch Berührung und gleichzeitigen Tastenanschlag elektronische Mischklänge der merkwürdigsten Art. Sie kehren wieder. Die Wohnung gehört selbstredend nicht ihm. Er tritt nur an die Stelle der Privatsphäre des Komponisten und inkarniert weitere Figuren.

»Ein Porträt des Künstlers als Toter« ist Teil einer großen Bewegung. Die Ungeduld wächst. Weltweit. Menschengruppen wollen mehr denn je erfahren, was Diktaturen und Täterschaften immer noch unter der Decke halten: die Verbrechen in Chile, Mexiko, Uruguay, die Auslöschungen in Kolumbien, Argentinien, Haiti, die Morde in Spanien, Kambodscha, die politischen und rassistischen Untaten in Indonesien und Südafrika. Opfer und ihre Helfer rufen laut nach Aufklärung. Die Täter schweigen, vertuschen, manipulieren, gestützt durch ihre Gesinnungslumpen und geduldet durch Staaten der »westlichen Wertegemeinschaft«. 1964 gab es den Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main. Dass er überhaupt stattfinden konnte, musste erkämpft werden. Seine Ergebnisse erschütterten die Welt. Der Fall, den das »Porträt eines Künstlers als Toter« zeichnet, ist winzig dagegen, aber eindringlich und öffnet auf subtile Weise die Augen. Der leibhaftige Komponist Bridarolli setzte sich am Ende ans Piano und spielte ein trauriges Stück.

Staatsoper, Neue Werkstatt, Hinter der Katholischen Kirche 1, Mitte. Nächste Aufführungen: 4., 6. und 8. Juli

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