Sorge um die letzte Instanz

30 von 82 Richtern des Obersten Gerichts in Polen in den vorgezogenen Ruhestand versetzt

  • Wojciech Osinski, Warschau
  • Lesedauer: 3 Min.

Die bevorstehende Richterpensionierung am Obersten Gericht hat die EU-Kommission am Montag dazu gezwungen, ein erneutes Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einzuleiten. Die polnische Regierung hat nun vier Wochen Zeit, um darauf zu reagieren. Das Gesetz sei schon im laufenden Dialog mit Warschau mehrfach angesprochen worden, jedoch habe es bisher keine zufriedenstellende Lösung gegeben, heißt es aus Brüssel. Ein bereits im April in Kraft getretenes Gesetz sieht vor, dass die obersten Richter nach dem 3. Juli mit 65 statt bisher 70 Jahren in den Ruhestand versetzt werden. Die Regelung betrifft rund ein Drittel der Richterschaft. Wer länger im Amt bleiben wolle, müsse ein Gesuch an den Staatspräsidenten stellen und obendrein ein Arbeitstauglichkeitsattest vorlegen. Das ist heikel, denn die Entscheidung liegt dann ausschließlich bei Staatschef Andrzej Duda und muss nicht einmal von ihm begründet werden. Viele Juristen befürchten, dass das neue Gesetz der Willkür der Nationalkonservativen bei der Richterpensionierung- und vor allem berufung Tür und Tor öffnen werde.

Noch am vergangenen Dienstag hatte Polen die Reformen bei einem EU-Treffen in Luxemburg verteidigt. Die EU-Kommission äußert nun seit fast drei Jahren erhebliche Zweifel an dem von der PiS-Regierung forcierten Umbau der Gerichtsbarkeit. Im Dezember 2017 hatte sie erstmals in der Historie der EU ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge initiiert. Die personellen Veränderungen am Obersten Gericht sind dabei lediglich ein Teil einer umfassenderen Reform, gegen die die Brüsseler Behörde vorgeht. So habe nach der Kaltstellung des Verfassungsgerichts auch die Umwälzung des Landesrichterrats (KRS) - eines Verfassungsorgans, dem die Richterausbildung sowie die Durchführung von Disziplinarverfahren obliegt - die Unabhängigkeit der Justiz beschnitten und die Gewaltenteilung untergraben.

Polens Präsident hatte noch im Sommer letzten Jahres mit einem Veto angeblich »das Schlimmste« zu verhindern versucht. Doch außer einer Verschiebung der Entscheidungsmacht vom Justizministerium zum Präsidentenpalast haben Dudas kosmetische Korrekturen nicht viel gebracht. Damit ging im Januar das einst der Richterschaft vorbehaltene Recht zur Wahl von KRS-Mitgliedern an den Sejm über, in dem die PiS seit Herbst 2015 über die absolute Mehrheit verfügt. »Ernsthafte Zweifel« an der Richterwahl des KRS bestehen laut der Anwaltskammer in Warschau. Viele vakante Stellen seien bereits mit Juristen aus dem Umfeld des Justizministers Zbigniew Ziobro besetzt worden.

In dem erzwungenen Ruhestand der Mitglieder des Obersten Gerichts sieht Brüssel nunmehr eine weitere Eskalationsstufe erreicht. Neben dem veränderten Renteneintrittsalter sieht das neue Gesetz auch eine »außerordentliche Beschwerde« gegen bereits rechtskräftige Urteile vor, sofern dies »für die Sicherung der sozialen Gerechtigkeit unabdingbar« sei. Harsch kritisiert wird zudem die neue »Izba Dyscyplinarna« (Kammer für Disziplinarverfahren), die aus Juristen besteht, die vom PiS-dominierten Senat auserkoren werden.

In den Ruhestand eintreten muss am Mittwoch auch die Präsidentin des Obersten Gerichts, Małgorzata Gersdorf. Die 65-jährige Juraprofessorin war eine der Führungspersonen der Protestaktionen gegen Ziobros Reformdrang. Noch Ende Juni hatte Gersdorf erklärt, sie wolle trotz des neuen Gesetzes im Amt bleiben. Dies habe ihre Vollversammlung im Einklang mit der Verfassung entschieden. Diese sehe eine sechsjährige Amtszeit für die Gerichtspräsidentin vor und kein Gesetz könne dies anfechten, so die Richterin. Theoretisch dürfte Gersdorf noch bis 2020 ihre Funktion ausfüllen. Die Regierung hält jedoch an ihrem Vorhaben fest. 30 von 82 Richtern müssen am Mittwoch ihren Stuhl räumen, darunter die Präsidentin. Denn die Vollversammlung des Gerichts sei nicht die zuständige Institution, um über die »Verfassungskonformität eines Gesetzes« zu entscheiden, so der Sprecher des Justizministeriums.

Anwälte und Richter rufen zu Protesten vor dem Gebäude des Obersten Gerichts auf. Schon am Sonntag fanden sich viele Polen am Krasiński-Platz ein, am Mittwoch sollen die Proteste ihren Höhepunkt erreichen. »Das Oberste Gericht ist die letzte Instanz unserer Freiheit. Lasst uns die Richter unterstützen!«, forderte Jarosław Kurski, Chefredakteur der »Gazeta Wyborcza«. Kommentar Seite 4

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