Europas Ukraine-Kalkül

Warum die EU-Regierungen gegenüber Russland auf das Völkerrecht pochen – und die USA lieber auf Deals setzen

  • Axel Gehring
  • Lesedauer: 6 Min.
Berechnende Brüderschaft: Bundeskanzler Friedrich Merz und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch in Berlin
Berechnende Brüderschaft: Bundeskanzler Friedrich Merz und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch in Berlin

Am Freitag treffen sich die Präsidenten der USA und Russlands, um über einen Frieden in der Ukraine zu sprechen. Im Vorfeld hatte es zwar ein Online-Treffen zwischen Donald Trump und den europäischen Regierungen gegeben. Von einer abgestimmten Strategie jedoch kann nicht die Rede sein. In den Unstimmigkeiten zwischen den USA und Europa über den Ukraine-Krieg und sein mögliches Ende verdichten sich tiefer liegende transatlantische Konflikte.

Vor allem die von der US-Regierung ins Spiel gebrachte Idee eines Gebietstausches zur Beendigung des Ukraine-Krieges wurde im Vorfeld des US-russischen Treffens als Angriff auf ukrainische und europäische Interessen gewertet. Unmittelbar vor der Schalte mit dem US-Präsidenten am Mittwochnachmittag hatten sich die europäischen Regierungen darauf verständigt, dass die Ukraine künftig bei Verhandlungen zugegen sein und ein Waffenstillstand am Anfang aller Friedensbemühungen stehen muss. Zudem müssten die Verhandlungen Sicherheitsgarantien für die Ukraine umfassen und Teil einer gemeinsamen transatlantischen Strategie sein. Auch solle die Ukraine nicht entwaffnet werden dürfen.

All dies sind bekannte europäische Positionen – allerdings ist offiziell eine neue hinzugekommen: Die Ukraine ist nun zu Verhandlungen über territoriale Forderungen bereit, sofern deren Ausgangspunkt die reale Frontlinie ist und eine juristische Anerkennung der russischen Besatzungen nicht zur Debatte steht. Letzteres hatte in den Tagen zuvor bereits der Nato-Generalsekretär Mark Rutte ins Gespräch gebracht.

Mit dem Nachgeben in der zentralen Frage der territorialen Forderungen Russlands haben die europäischen Regierungen versucht, noch an einem möglichen Verhandlungsprozess über die Beendigung des Ukraine-Krieges beteiligt zu werden. Und während des Online-Meetings mit Trump am Mittwochnachmittag kam eine weitere Konzession hinzu: Die Frage von Sicherheitsgarantien für die Ukraine wurde laut Bundeskanzler Friedrich Merz mit Trump gar erst nicht besprochen.

Gefangenenaustausch vor dem Gipfel

Einen Tag vor dem Treffen zwischen US-Präsident Donald Trump und dem russischen Staatschef Wladimir Putin laufen in Washington und Moskau die Vorbereitungen. Putin sprach am Donnerstag in Moskau von »aufrichtigen Anstrengungen« der US-Regierung, ein Ende der Kämpfe in der Ukraine zu erreichen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj suchte derweil in London den Schulterschluss mit dem britischen Premierminister Keir Starmer.
Ebenfalls am Donnerstag tauschten Russland und die Ukraine erneut Gefangene aus. Nach Angaben aus Moskau kehrten bei dem von den Vereinigten Arabischen Emiraten vermittelten Tausch auf beiden Seiten 84 Soldaten in ihre Heimat zurück.
Die russische Armee setzte derweil ihren Vormarsch im Osten der Ukraine fort. Die Truppen nahmen nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau die Dörfer Iskra und Schtscherbyniwka in der Region Donezk ein. Zuvor hatte die russische Armee bereits deutliche Geländegewinne gemeldet.
Im Süden Russlands wurden nach Behördenangaben am Donnerstag 13 Menschen bei einem ukrainischen Drohnenangriff getötet, zwei von ihnen Kinder. Die Drohnen beschädigten demnach etwa zehn Wohngebäude in der Stadt Rostow am Don. Die russische Luftabwehr fing in den vergangenen 24 Stunden nach eigenen Angaben 268 Drohnen und vier Gleitbomben aus der Ukraine ab.
Bisherige Bemühungen um einen Waffenstillstand in der Ukraine nach dreieinhalb Jahren Krieg blieben ergebnislos. Moskau verlangt von Kiew, die vier von Russland teilweise besetzten ostukrainischen Regionen Saporischschja, Donezk, Luhansk und Cherson sowie die von Russland annektierte Halbinsel Krim vollständig abzutreten und zudem auf westliche Militärhilfe und einen Nato-Beitritt zu verzichten. Die Ukraine weist diese Forderungen als unannehmbar zurück und fordert westliche Sicherheitsgarantien.  AFP/nd

Während Merz das Gespräch zweckoptimistisch bewertete, kann nichts über das offensichtliche Fehlen transatlantischer Abstimmung hinwegtäuschen. Und die grundlegenden Differenzen zwischen trumpistischer Außenpolitik und den Interessen der EU-Regierungen wiegen noch schwerer. Während die US-Regierung kein Interesse mehr am Ukraine-Krieg zeigt, betrachten die europäischen Regierungen ihn als einen Krieg um die Zukunft des Kontinents. Erschwerend kommt für sie hinzu, dass die US-Außenpolitik zwischen der Option einer »Europäisierung« des Krieges – bei der EU-Regierungen in den USA Waffen für die Ukraine kaufen dürfen und sollen – und einem raschen Ende des Krieges bei großen Konzessionen an Russland schwankt.

Europas ständiger Verweis auf das Völkerrecht ist nicht idealistisch, sondern interessengeleitet.

Die sich abzeichnende Option eines »Gebietstausches« verschärft die Spannungen zwischen den europäischen Staaten und den USA dabei nicht nur prinzipiell, weil dieser droht, über die Köpfe der Ukraine und Europas hinweg verhandelt zu werden. Auch real materiell hätte ein »Gebietstausch« Konsequenzen: Sehr wahrscheinlich würde er aus Sicht der USA bedeuten, dass Russland Teile des eroberten Territoriums abgeben soll, damit es andere eroberte behalten darf. Aus Sicht der EU-Regierungen wäre dies weit mehr als eine Verletzung der territorialen Souveränität der Ukraine. Eine Verschiebung der Grenzen stellt die De-Jure-Legitimierung eines schwerwiegenden Völkerrechtsbruchs dar, der unmittelbar die Ordnung auf dem Kontinent berührt.

Im Gegensatz zur Weltmacht USA, die unter Trump eine verregelte Weltordnung als Einschränkung der eigenen Handlungsfähigkeit betrachtet, basiert die Souveränität der EU-Mitglieder im internationalen Staatensystem wesentlich auf dieser Ordnung. Die europäische Integration hatte sich über Jahrzehnte komplementär zur US-Hegemonie und ihrem Institutionensystem entwickelt, dies gilt auch für die Wirtschafts- und Handelsordnung. Ein von und mit den USA abgesicherter Globalisierungsprozess samt multilateral verankerter Welthandelsordnung schuf die Voraussetzungen für europäische Exporterfolge und für das wirtschaftspolitische Gewicht der EU im Weltmaßstab. Das transatlantische Bündnis und ihr sicherheitspolitischer Multilateralismus waren immer eine von mehreren Säulen der US-Hegemonie, an welcher die EU-Staaten subaltern, aber doch privilegiert beteiligt waren. Diese Säulen brechen nun reihenweise weg, ohne dass die EU die Kapazität hat, eine eigene multilaterale Ordnung im Weltmaßstab zu errichten. Deswegen hat die EU einen stärker normativ-institutionalistischen Blick auf die Ordnung in Europa – als die schwächere Akteurin braucht sie eine solche Ordnung stärker als die USA.

Ins Mark träfe die europäische Seite daher ein von den USA mit Russland ausgehandelter Friedensschluss, der Grenzverschiebungen legalisiert, die auf dem Bruch der UN-Charta basieren. Denn er entspräche einer Legalisierung des Bruchs einer Ordnung, die sie selbst nicht garantieren kann. Daher ist der beständige europäische Verweis auf das Völkerrecht nicht idealistisch, sondern interessengeleitet. Zwar rüsten die EU-Staaten inzwischen für konventionelle Kriege und nicht mehr primär überseeische Auslandseinsätze. Doch bis sich das machtpolitisch materialisieren kann, geht Zeit ins Land. Hinzu kommt die Tatsache, dass die konfrontative US-Zollpolitik das Exportmodell wichtiger europäischer Staaten und damit sehr unmittelbar die materiell-ökonomische Fundierung möglicher europäischer Macht angegriffen hat.

Diese Verschränkungen zwischen normativen völkerrechtlichen Prinzipien in Verbindung mit dem konkreten europäischen Interesse an mehr Multilateralismus im westlichen Lager macht den Kern der transatlantischen Krise aus, die sich in vielen Feldern zeigt – vom Welthandel bis zum Ukraine-Krieg. Die EU steht vor der Wahl, entweder normativ eine Ordnung zu verteidigen, die sie selbst nicht garantieren kann, oder gute Beziehungen zu einem Hegemon zu pflegen, der selbst die Ordnung nicht garantieren möchte und dessen Loyalität gegenüber Europa zweifelhaft ist.

Die USA hingegen agierten in den letzten Wochen in der Gewissheit, nun einen starken Hebel gegen Russland gefunden zu haben: Ihre zollpolitische Macht, die effektiven Druck auf ihre Bündnispartner ausüben soll. Doch ist fraglich, ob diese US-Rechnung aufgeht. Inzwischen hat Trump seine Zolldrohungen gegen russische Handelspartner relativiert. Auch die davon unabhängigen Strafzölle gegen China wurden einmal mehr um 90 Tage verschoben – während die EU erst im Juli einen überaus schlechten Zolldeal mit den USA geschlossen hat.

Nicht unterschätzen sollte man allerdings die Kapazitäten der EU zur Unterstützung der Ukraine: Europas kumulierte Rüstungsbeschaffungen haben inzwischen mit 35,1 Milliarden Euro jene der USA um 4,4 Milliarden Euro überholt. Nachdem vom Spätsommer 2023 an US-Militärhilfen wegen der republikanischen Blockade im Repräsentantenhaus monatelang auf Eis lagen, wurde über einen Zusammenbruch der Ukraine spekuliert – der blieb aber aus. Auch das Zurückhalten von US-Militärhilfen nach Antritt der Trump-Administration hat die Ukraine bislang überstanden. Mit der sich beständig ausweitenden militärischen Unterstützung der Ukraine versuchen die EU-Regierungen Kiew in die Lage zu versetzen, nicht jeden Vertrag mit Russland unterzeichnen zu müssen. Damit stärken sie nicht zuletzt auch ihr eigenes Gewicht gegenüber den USA.

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