Der Fluch der Kernspaltung

Vor 50 Jahren starb der deutsche Chemiker und Nobelpreisträger Otto Hahn. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs internierte ein alliiertes Sonderkommando zehn führende deutsche Atomwissenschaftler in einem Landhaus bei Cambridge. Neben Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker befand sich darunter auch Otto Hahn, der Entdecker der Kernspaltung. Er war der Erste, dem der britische Geheimdienstoffizier Terence Rittner am 6. August 1945 mitteilte, dass die US-Amerikaner über der japanischen Stadt Hiroshima eine Atombombe gezündet hatten. »Ich war unsagbar erschrocken und niedergeschlagen«, erinnerte sich Hahn, »der Gedanke an das große Elend unzähliger unschuldiger Frauen und Kinder war fast unerträglich.« Obwohl er im deutschen Uranprojekt nur eine marginale Rolle gespielt hatte, fühlte sich Hahn persönlich verantwortlich für den Tod dieser Menschen. »Er sagte mir, dass er sich, als er die Tragweite seiner Entdeckung erkannte, ursprünglich mit Selbstmordgedanken getragen habe und dass jetzt, wo die Möglichkeit Wirklichkeit geworden sei, ihn die volle Schuld treffe«, protokollierte Rittner sein Gespräch mit Hahn, der nach seiner Rückkehr nach Deutschland zum engagierten Vorkämpfer für Frieden und Abrüstung wurde.

Als solchen lernte ihn auch Friedrich Herneck, der Nestor der DDR-Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in den 50er Jahren kennen und schätzen. »Dass die von Hahn erschlossene Einsicht zunächst nicht zum Nutzen der Menschheit, sondern zu ihrem Verderben, zur Schaffung von Massenvernichtungsmitteln, ausgewertet wurde, ist den politischen Verhältnissen zuzuschreiben, in die diese Entdeckung zeitlich fiel«, schrieb Herneck in seinem bis heute lesenswerten Buch »Bahnbrecher des Atomzeitalters«. »Den Gelehrten trifft daran keine Schuld. Aber gerade durch diese tragische Verkettung von Wissenschaft und Gesellschaft wurde Otto Hahn zu einer einzigartigen weltgeschichtlichen Gestalt, zu einem jener Naturforscher, die in ihrer Bedeutung hoch hinausragen über den Bereich ihres fachwissenschaftlichen Sondergebietes, wie - auf andere Weise - Galilei oder Darwin.«

Otto Hahn wurde am 8. März 1879 als Sohn eines Glasunternehmers in Frankfurt am Main geboren. Nach dem Abitur nahm er an der Universität Marburg ein Chemiestudium auf. Als Nebenfächer wählte er Mineralogie, Mathematik und Physik. Außerdem hörte er Philosophievorlesungen bei den Neukantianern Hermann Cohen und Paul Natorp, die sein empirisch geprägtes wissenschaftliches Denken maßgeblich beeinflussten. Das dritte und vierte Semester verbrachte Hahn an der Universität München, im Labor des späteren Nobelpreisträgers Adolf von Baeyer, der die Indigosynthese entwickelt hatte. Anschließend kehrte er zurück nach Marburg, wo er 1901 mit einer Arbeit zur organischen Chemie promoviert wurde.

Eigentlich wollte Hahn eine Stelle in der Industrie annehmen. Da sein künftiger Arbeitgeber von ihm jedoch gute Englischkenntnisse erwartete, wechselte er 1904 an das Londoner University College und wurde Mitarbeiter von Sir William Ramsay, dem Entdecker der Edelgase. Hier kam Hahn erstmals mit dem noch jungen Gebiet der Radiochemie in Berührung und sorgte rasch für Furore: Bei der Arbeit mit Salzen des Radiums gab er 1905 die Entdeckung eines neuen Elements bekannt, das er »Radiothor« nannte. Ramsay war begeistert und schickte Hahn zur weiteren Qualifizierung nach Montreal zu dem Experimentalphysiker Ernest Rutherford. Hier sammelte Hahn wertvolle Erfahrungen in der radiophysikalischen Arbeit und wartete wiederholt mit der Entdeckung neuer Elemente auf, die jedoch, ebenso wie Radiothor, gar keine waren. In Wirklichkeit handelte es sich um unbekannte Isotope bereits entdeckter Elemente.

Im September 1907 - Hahn war damals Mitarbeiter am Chemischen Institut der Berliner Universität - machte er die Bekanntschaft der Wiener Physikerin Lise Meitner. Beide bildeten fast 30 Jahre lang ein kongeniales Team, dem tatsächlich die Entdeckung eines neuen Elements gelang. Es wurde Protactinium genannt, hat die Ordnungszahl 91 und steht im Periodensystem direkt vor Uran, dem schwersten in der Natur vorkommenden Element.

Das Element Uran sollte für Hahn und Meitner von schicksalhafter Bedeutung werden. Denn ab 1934 begannen beide, es mit Neutronen zu beschießen, in der Hoffnung, dabei sogenannte Transurane zu erzeugen, Elemente also, die noch schwerer sind als Uran. Obwohl es lange so schien, als hätten sie damit Erfolg, misslang das Unternehmen. Im Sommer 1938 musste Meitner wegen ihrer jüdischen Herkunft vor den Nazis aus Deutschland fliehen. Hahn und der junge Chemiker Fritz Straßmann setzten die Experimente am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie fort und entdeckten im Dezember 1938, dass sich der Urankern durch Neutronenbeschuss in zwei leichtere Kerne spalten lässt. Eine physikalische Deutung dieses Prozesses gab Meitner in ihrem schwedischen Exil. Da bei einer Kettenreaktion von Kernspaltungen erhebliche Energiemengen frei werden, lag der Gedanke nahe, auf dieser Grundlage eine neuartige Bombe zu entwickeln.

Dies wurde in den USA ebenso versucht wie in Deutschland. Hahn, der sich 1933 geweigert hatte, das »Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler« zu unterzeichnen, zeigte indes keinerlei Interesse an der technischen bzw. militärischen Realisierung der nuklearen Kettenreaktion. Dennoch wurde er, wie eingangs erwähnt, 1945 von den Westalliierten in England interniert. Hier erfuhr er, dass ihm der Chemienobelpreis für das Jahr 1944 zuerkannt worden war. Meitner und Straßmann gingen in Stockholm leer aus. Das wird häufig als schweres Versäumnis des Nobel-Komitees angesehen, zumal eine Dreiteilung des Preises nach den Nobel-Statuten durchaus möglich gewesen wäre. Manche Historiker haben Hahn sogar ein schlechtes Gewissen unterstellt, als er Straßmann von dem Nobelpreisgeld 10 000 Schwedenkronen anbot.

1948 übernahm Hahn das Amt des Präsidenten der neu gegründeten Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (MPG), das er bis 1960 innehatte. In Wort und Schrift setzte er sich immer wieder für die friedliche Nutzung der Kernenergie ein und warnte vor deren Missbrauch. Als 1957 bekannt wurde, dass die Adenauer-Regierung die Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen ausrüsten wollte, unterzeichneten Hahn und 17 weitere deutsche Atomforscher die sogenannte Göttinger Erklärung. Sie versicherten darin, sich in keiner Weise »an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen« zu beteiligen. Von Hahns Büro aus ging die Erklärung an die Deutsche Presse-Agentur (dpa), bei der manche anfangs glaubten, es handele sich um ein Täuschungsmanöver des Ostens. Ein Anruf bei Hahns Sekretärin beruhigte die Zweifler und der Text wurde weltweit verbreitet.

Nicht nur als Naturwissenschaftler genoss Hahn in Ost und West hohes Ansehen. Ab 1957 wurde er auch mehrfach für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, darunter von der größten französischen Gewerkschaft CGT. Vor 50 Jahren, am 28. Juli 1968, starb Otto Hahn in Göttingen an Herzversagen. Er wurde 89 Jahre alt.

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