Wenn ein Kind stirbt

Berührend und verstörend: »Lincoln im Bardo«, der erste Roman des US-amerikanischen Erzählers George Saunders

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Dieser Erstlingsroman von einem Autor, der kein Neuling im Schreiben ist, verstört und berührt. Er ist ein dissonantes Stimmengewirr über Liebe, Verlust und Widerstand, es sind Stimmen von Lebenden und Toten - klar oder verzerrt, luzide oder rätselhaft - in einer Winternacht 1862 auf einem Friedhof in Washington. Ein trauernder US-Präsident wird in diesem Romandebüt des Schriftstellers, der bisher für seine Kurzgeschichten bekannt war, in den Zwischenbereich von Leben und Tod geholt, im tibetischen Buddhismus »Bardo« genannt.

Der Tod des elfjährigen Willie Lincoln, der im Februar 1862 an Typhus starb, wirft Präsident Abraham Lincoln und seine Frau Mary aus der Bahn. Die Mutter, unfähig, an der Beerdigung teilzunehmen, ist für längere Zeit ans Bett gefesselt. Der Vater, bedrückt von inneren Zweifeln und öffentlichem Aufruhr im ersten Jahr des US-amerikanischen Bürgerkriegs (1861 - 1865), wird von Schmerz und Trauer nachts auf den Friedhof getrieben, wo Willies Leichnam vor der Trauerfeier in einer Krypta ruht.

Saunders entwickelt aus der Familienkatastrophe eine Menschheitsgeschichte. Eine Geschichte des Aufbegehrens gegen den Verlust und eine Geschichte des Mitgefühls, das Familien prägen und ein Land menschlicher machen kann. Die Geister der Friedhofstoten - gramgebeugte Witwen, gewalttätige Ganoven und Säufer, Hurenböcke, liebevolle Mütter und gedemütigte Sklaven, die auch im Bardo mit dem unwirtlichsten Teil des Friedhofs geschlagen sind - bilden die Stimmen des Romans, der im Grunde ein großes Gedicht ist.

Saunders, selbst praktizierender Buddhist, fragmentiert das Stimmenkonzert so konsequent, dass daraus nicht nur eine originäre literarische Form, sondern auch ein großes Risiko entsteht. Was anfangs reizvoll zu lesen ist, wird zwischenzeitlich eine Kakophonie, die Orientierung erschwert und den Spaß bremst. Dennoch ist Saunders’ erster Roman am Ende ein insgesamt gelingendes und oft anrührendes Plädoyer für Empathie und Opferbereitschaft, gegen Gleichgültigkeit, Selbstgefälligkeit und Grausamkeit. Bei Einzelnen wie Nationen. Der Umstand, dass die Originalfassung im Jahr nach Donald Trumps Wahl erschien, hat gleichfalls Assoziationen geweckt.

Die Stimmen der Friedhofstoten und Willies Stimme treten uns in Bruchstücken entgegen, in persönlichen Beobachtungen, Kommentaren und Bewusstseinsäußerungen. Sie ergänzen sich gegenseitig, fallen sich ins Wort oder widersprechen sich ganz. Eben wie die menschliche Erinnerung auch. Zwischendurch haben Stimmen aus einem Dasein ihren Auftritt, das im Buch »the previous place«, der frühere, vormalige Ort, genannt wird - das Leben. Fetzen knapper Augenzeugenberichte aus dem Bürgerkrieg, kurze Passagen aus Tagebüchern, Briefen und Zeitungsberichten. Auch sie so widersprüchlich wie die Erinnerungen der Toten.

Doch an diesem Ort haben die Toten das erste und das letzte Wort, nicht zuletzt, weil sie selbst sich keineswegs für tot oder gefühllos halten. Die beiden wichtigsten Stimmen, Hans Vollman und Roger Bevins III, halten sich für verwundet, aber durchaus zur Hoffnung berechtigt, irgendwann die »Kranken-Kisten« wieder zu verlassen und in das Leben zurückzukehren, das sie verloren haben. Sie hoffen, der Bardo werde nicht ihre letzte Ausfahrt zum Tod, sondern eine Drehtür ins Leben sein. Welch Hoffnung, was für ein Widerstand, welche Illusion!

Vollman sehnt sich nach den Freuden einer im Leben unbefriedigend gebliebenen Hochzeitsnacht, die ihn im Stadium erigierter Lust zurückließ. Der schwule Bevins steckt voller Reue, weil er sich in einer Lebensromanze voreilig die Adern aufschnitt. Im Bardo gelandet, erinnert er - zu spät klug geworden - seinen selbstmörderischen Weltschmerz mit Bildern weltlicher Schönheit.

Die Tragödie um Willie aber reißt die Toten aus der Ödnis ihres Friedhofsalltags. Ihre Empathie erwacht, man will Willie eine Rückkehr ins Leben ermöglichen. In diesem Aufbegehren gegen Verlust und Leid begegnet uns das vielleicht schönste Anliegen des Autors.

Die »Materienlichtblüte« mit überirdischem Glanz und Knall bezeichnet im Buch das endgültige Verlöschen der Körperlichkeit und das Hinüberwechseln in den Tod, den Austritt aus dem Bardo und den Eintritt in die Ewigkeit. Im Duett werfen sich Vollman und Bevins nach Willies Weggang ein letztes Mal die Bälle zu: »Alle litten, hatten gelitten oder würden bald leiden.« - »Die Natur der Dinge eben.« - »An der Oberfläche schien zwar jeder Mensch anders zu sein, aber das stimmte gar nicht.« - »Im Kern eines jeden lag das Leid; unser sicheres Ende irgendwann und die vielen Verluste, die wir auf dem Weg dorthin ertragen mussten.«

Als Willie unwiederbringlich den Bardo verlässt, schreibt Saunders: »Dann, ohne seine Körpergröße im Geringsten zu verändern (also immer noch in Kindergröße), nahm er seine verschiedenen künftigen Gestalten an (die er leider nicht mehr erreicht hatte): nervöser junger Mann im Hochzeitsgehrock; nackter Gatte, von der gerade erlebten Lust noch feucht zwischen den Beinen; junger Vater, aus dem Bett springend, um eine Kerze anzuzünden, weil ein Kind geschrien hat; trauernder Witwer mit weißem Haar; gebeugter alter Knabe mit Ohrtrompete, breitbeinig auf einem Baumstumpf, nach Fliegen schlagend.«

George Saunders: Lincoln im Bardo. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Luchterhand, 448 S., geb., 25 €.

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