Wie Unterdrückung auf Unterdrückung folgt

Ahmet Altan ist in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt; »Wie ein Schwertstreich« ist ein großartiger Roman

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Mann sitzt in einer Ruine am Bosporus, lässt den Geist von Istanbul auf sich wirken, vernimmt die Stimmen aus der Vergangenheit, spricht mit den Toten. So erfährt er von ihren Taten, ihren Träumen, ihrer Liebe und ihrem Untergang. Osman heißt dieser Mann, und die Toten erzählen ihm nach und nach, wie sie die letzten Tage des Osmanischen Reichs an der Wende zum 20. Jahrhundert erlebten.

Mit diesem Kunstgriff veranschaulicht Ahmet Altan wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht den Intrigantenstadel am Hofe des türkischen Sultans, die Machtstrukturen und Ränkespiele, die Korruption, den Untertanengeist, die Denunziationen und Intrigen, die Unberechenbarkeit des Despoten, auch seine Angst, die Macht zu verlieren, die vorrevolutionäre Stimmung schließlich.

Nicht als Historiker tritt der Schriftsteller auf, sondern als Erzähler, der eine untergegangene Welt lebendig macht. Ahmet Altan ist in der Türkei einer der erfolgreichsten Schriftsteller. Seine Romane und Essays sind in Millionenauflage erschienen, heißt es. Altan war immer unbequem - und in seinen journalistischen Texten leichter anzugreifen. So stand er bereits mehrfach vor Gericht wegen seiner politischen Überzeugungen. Doch nun hat Ministerpräsident Erdogan dafür sorgen lassen, dass der 68-jährige Schriftsteller womöglich so lange im Gefängnis zu bleiben hat, wie die Machtverhältnisse in der fundamentalistischen Türkei zementiert sind.

Und wir können diesen zwanzig Jahre alten Roman nun als Gleichnis auf die Gegenwart lesen. Auch die Zerrissenheit zwischen Orient und Okzident wird verdeutlicht, denn eine der Figuren, Hüseyin Hikmet, ist in Paris aufgewachsen. Doch als Palastsekretär und Sohn des Leibarztes vom Sultan ist dieser Hüseyin Hikmet den rigiden Gepflogenheiten bei Hofe unterworfen - und in seinem eigenen Haus der Unersättlichkeit seiner schönen und traditionellen Ehefrau Mehpare.

Als Hüseyins exzentrische Mutter aber von Paris nach Istanbul zu Besuch kommt, unverschleiert natürlich, verstört sie die ganze Istanbuler Gesellschaft. Ihr Sohn erkennt, schmerzhafter noch als zuvor, die Unfreiheit in der Türkei. Er beginnt, sich gegen die Traditionen aufzulehnen und eine Wandlung der Verhältnisse herbeizusehnen.

Als Ahmet Altan diesen Roman 1998 erstmals veröffentlichte, wurde die Türkei noch nicht fundamentalistisch regiert. Recep Tayyip Erdogan, der heutige Ministerpräsident, stand damals als Oberbürgermeister von Istanbul sogar vor Gericht. »Aufstachelung der Bevölkerung zu Hass und Feindschaft«, lautete die Anklage. Für ein paar Monate musste Erdogan ins Gefängnis, doch sein lebenslanges Politikverbot wurde rasch aufgehoben.

Ahmet Altan zeichnet in seinem Roman Zustände wie gemalt für die Gegenwart. Von »großen Verhaftungswellen« ist die Rede, von Denunziationen und Verbannungen, von einer Furcht, die »sich wieder einmal wie eine Seuche« in Istanbul ausbreitet. Ahmet Altan erinnert in seiner Schreibweise an den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Er erfindet lebendige Figuren, er zeichnet überzeugende psychologische Studien, schreibt über das Schicksal des Menschen und seine Ahnungslosigkeit, malt Bilder der Liebe, pastellfarbene Ansichten voller Erotik, verdeutlicht die Triebhaftigkeit des Menschen.

Ein großartiger Schriftsteller: Er legt sein Gesellschaftsbild breit an, doch langweilig wird es nie. Gegen Ende geraten wir ins Kriegsgetümmel. Umsturzpläne werden geschildert, Anfang des 20. Jahrhunderts, die Guerillakämpfe in den Bergen, der Tyrannenmord am Stellvertreter des Sultans in Saloniki schließlich, das »folgenschwerste Attentat der türkischen Geschichte«, wie es heißt, vom Sommer 1908. Das Ende der Unterdrückung scheint da zu sein, die Jungtürken haben die Oberhand gewonnen, der Absolutismus des Sultans ist gebrochen, Freudenschreie sind zu vernehmen, Böller, Ausgelassenheit in der Bevölkerung.

Doch Osman, seine Figur in der Ruine am Bosporus, schaut auf jenes Reich voll von Toten und erkennt, »dass jedes abdankende Unterdrückungssystem durch ein neues abgelöst würde; dass hier nur die Unterdrückung gedeihen konnte«. So seherisch hat Ahmet Altan seinen Roman vor zwanzig Jahren enden lassen.

Der Schriftsteller hat - das Werk Honoré de Balzacs als Leitbild vor Augen - Dichtung und Zeitgeschichte klug miteinander verbunden. Eine Sittengeschichte liegt damit vor, die nicht nur für Altans Heimatland der Gegenwart gültig ist, sondern für alle Regionen dieser Welt, in denen die Willkür von Potentaten und die Ohnmacht (und Feigheit) von Untertanen herrschen.

Ahmet Altan: Wie ein Schwertstreich. Roman Aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellesen. S. Fischer Verlag, 416 S., br., 14 €.

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