Die Mäuse fraßen immer oben links

Dem Potsdamer Fontane-Archiv fehlen seit dem Zweiten Weltkrieg wichtige Originaldokumente

  • Wilfried Neiße
  • Lesedauer: 3 Min.

Das große Denkmal in Neuruppin (Ostprignitz-Ruppin) hat das verbreitete Bild des Dichters Theodor Fontane vielleicht noch nachhaltiger geprägt als seine Romane. Der Schöpfer der »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« sitzt da in Bronze als Wanderbursche mit Stock, Schal und allwettertauglichem Mantel - und taugt also nur bedingt als Spiegel der Wirklichkeit.

»Gewandert ist er nur im Ausnahmefall«, sagte Christiane Barz, Kuratorin der Veranstaltungsreihe »fontane.200«, als Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) das Fontane-Archiv besuchte, das seinen Sitz am Potsdamer Pfingstberg hat und sich natürlich auf die Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag Fontanes vorbereitet. Barz sagte: »Fontane hat sehr gern den Zug genommen.«

Wer in den angenehm klimatisierten Archivräumen arbeitet, ist sich schmerzlicher Lücken bewusst. Denn der Bestand ist unvollständig. Mitarbeiter Peter Schaefer - er gibt die seit 1965 erscheinenden Fontane Blätter heraus - ist sich sicher: »Vieles liegt noch auf den Dachböden.«

1935, in der Nazizeit, wurde das »Literaturarchiv für die Provinz Brandenburg« gegründet und ist seit 1939 in Potsdam ansässig. Es sammelte danach, was vom »Dichter der Mark«, dem »Märkischen Goethe« schriftlich aufzutreiben war. 1944, im Zweiten Weltkrieg, wurde das Archiv ausgelagert, aber wie Schaefer sagt - unverständlicherweise nicht Richtung Thüringen oder Harz, wohin der Großteil der Berliner Archive abtransportiert worden war. Das Fontane-Archiv wurde aus ungeklärten Gründen der Front gleichsam entgegengefahren und strandete an der Oder.

Könnte das fehlende Material von sowjetischen Truppen beiseite geschafft worden sein? Dies sei eher unwahrscheinlich, sagt Schäfer, zumindest, was den größeren Teil der vermissten Unterlagen betreffe. Glaubhafte Berichte sprechen von einer sowjetischen Soldatin, die mit der Samtschärpe angetroffen wurde, die Fontane zu seinem 70. Geburtstag getragen hatte. Offiziere seien von Deutschen informiert worden. Die sicherten den Keller mit dem Archivgut. Niemand wisse jedoch, was vorher oder auch danach dort entwendet wurde und von wem. »Es wird sehr viel vermisst«, erklärt Schäfer. Er tippe auf Privatbesitz in Ostbrandenburg oder Westpolen. Sein Appell lautet: »Wenn Sie etwas finden, schmeißen Sie es nicht weg.«

Tatsächlich taucht immer wieder etwas auf. »Wir kaufen Dinge zurück, die das Archiv schon einmal besessen hatte.« Einiges ist - möglicherweise in den 1950er Jahren - auch in den Westen gebracht worden. Nach der Wende habe beispielsweise Bundespräsident Johannes Rau (SPD) vermittelt, dass die Stadtbibliothek Wuppertal dem Fontane-Archiv Dokumente zurückgab. Ob Archivalien einstmals zum Bestand der Fontane-Sammlung gehörten, könne man am Stempelabdruck ablesen, der als »Besitznachweis« in der Regel links oben zu finden war. Das aber wissen Menschen, die wertvolles Archivgut zu Geld machen wollen, und deshalb fehlen in bemerkenswerter Regelmäßigkeit die Ecken der Seiten links oben. Das wird genauso regelmäßig mit »Mäusefraß« erklärt.

Von acht Tagebüchern sind nach wie vor fünf verschollen. Er persönlich habe auf das Fontane-Jahr 1998 gesetzt und gewettet, dass mindestens eines in diesem Zusammenhang wieder auftauchen werde, erzählt Schaefer. »Ich habe die Wette verloren.«

Neben der Archivierung des Originalbestandes und der Fontane-Literatur befasst sich das Archiv auch mit der Digitalisierung der Bestände und es regt Debatten über neue Sichtweisen auf Fontane an. Im Rahmen des Fontane-Jahres 2019 wird das Archiv, das zur Universität Potsdam gehört, einen großen Kongress zum Thema »Fontanes Medien 1819-2019« ausrichten.

Christiane Bartsch sagt, Theodor Fontane scheine bekannt und gelte als »in alle Richtungen vermessen«. Doch sei er viel mehr als der große Realist und Romanschriftsteller, als welchen die Nachwelt ihn angenommen habe. Mit der Romanschriftstellerei hatte der gelernte Apotheker aus Neuruppin ohnehin erst im Alter begonnen. Vielmehr sei er im Berufsleben Kriegsberichterstatter, brillanter Theaterkritiker und aufmerksamer Beobachter und Beschreiber seiner Zeit gewesen. Fontane habe in seinem Leben 67 Notizbücher gefüllt und darin Anekdoten, Skizzen, Romanideen niedergelegt.

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