Rückenwind für Wechselgegner

Große Mehrheit lehnt in einer EU-Umfrage die Zeitumstellung im Frühjahr und Herbst ab

  • Michel Winde, Ansgar Haase und Verena Schmitt-Roschmann, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.

Soll in der EU weiter zweimal im Jahr die Zeit umgestellt werden? Bei einer EU-weiten Umfrage hat sich eine deutliche Mehrheit der Teilnehmer dagegen ausgesprochen. Nun brütet die EU-Kommission darüber, ob das halbjährliche An-der-Uhr-drehen nach Jahrzehnten tatsächlich abgeschafft werden könnte. Der Druck im Europaparlament wächst jedenfalls.

Rund 4,6 Millionen Antworten sind bei der Befragung der EU-Kommission eingegangen, über 80 Prozent davon waren nach vorab durchgesickerten Zahlen für eine Abschaffung der Zeitumstellung. Die meisten sind für eine dauerhafte Sommerzeit. Bemerkenswert ist, dass von den 4,6 Millionen Rückmeldungen mehr als drei Millionen aus Deutschland kamen. Über die Ergebnisse der Onlinebefragung hatte zuerst die »Westfalenpost« berichtet. Die dpa bekam aus gut informierten Kreisen eine Bestätigung.

Die Brüsseler Behörde will sich also noch nicht in die Karten schauen lassen, ob sie einen Gesetzesvorschlag zur Abschaffung der Zeitumstellung vorlegen wird. Der Sprecher betonte, die Umfrage sei kein Referendum. Bindend ist das nichtrepräsentative Votum, an dem sich bis Mitte August jeder beteiligen konnte, nicht. Aber kann die EU-Kommission hinter dieses deutliche Ergebnis tatsächlich noch zurück? Vertreter fast aller im Europaparlament vertretenen deutschen Parteien - unter ihnen CDU, CSU, SPD, Grüne und FDP - meinen: Nein! »Ein so eindeutiges Ergebnis dürfen die EU-Institutionen nicht ignorieren«, sagte CDU-Politiker Peter Liese. Martin Häusling (Grüne) sieht das ähnlich: »Wenn die Kommission auf diese 80 Prozent nicht reagiert, dann machen wir uns komplett lächerlich.« Er spricht sich für eine dauerhafte Beibehaltung der Sommerzeit aus. Dafür ist auch der SPD-Politiker Ismail Ertug. »Als Vater kenne ich das Problem mit der Zeitumstellung beim Schlafengehen der Kinder. Es dauert, bis sie wieder ihren Rhythmus finden.« Ertug sieht die EU-Kommission jetzt am Zug. Diese müsse möglichst schnell einen Gesetzesvorschlag vorlegen.

Das fordert auch CDU-Politiker Liese. Seiner Ansicht nach sollten Europaparlament und EU-Staaten noch vor der Europawahl im Mai über einen möglichen Vorschlag der EU-Kommission entscheiden. Der Rückhalt im Parlament sei klar, sagte Liese. Auch Häusling sieht eine »ganz klare Mehrheit für eine Abschaffung der Zeitumstellung« im Europaparlament. Im Rat der Mitgliedstaaten ist die Lage Liese zufolge nicht ganz so eindeutig, aber: »Ich sehe auch da keine Mehrheit gegen die Abschaffung.«

Einige EU-Länder haben sich ohnehin schon positioniert. Litauen, Estland und Lettland sprachen sich ebenso für eine Abschaffung der Zeitumstellung aus wie Finnland. Von Deutschland ist keine Position bekannt. Ein FDP-Antrag im Bundestag für eine ganzjährig geltende Zeitregelung in der EU scheiterte im März - auch an der Ablehnung durch CDU, CSU und SPD.

Das Europaparlament hatte die EU-Kommission im Frühjahr beauftragt zu prüfen, wie es mit der im EU-Recht geregelten Zeitumstellung weitergehen soll. Die Mitte August beendete Onlineumfrage sollte Hinweise dazu geben. Die Behörde hatte nach Ende der Konsultation zunächst nur die Teilnehmerzahl mitgeteilt, aber noch nichts zu Ergebnissen oder zur regionalen Verteilung gesagt.

Bei der Umfrage konnten Teilnehmer angeben, ob sie für eine Abschaffung der Zeitumstellung plädieren. Das soll EU-weit einheitlich geregelt bleiben. Die Bürger konnten anklicken, ob im Fall der Fälle lieber dauerhaft die Sommer- oder die Winterzeit gelten sollte. Diese Frage läge dann im Ermessen der einzelnen EU-Länder.

Weshalb treibt die halbjährliche Zeitumstellung so viele Menschen um - vor allem in Deutschland? Häusling zufolge beteiligen sich die Deutschen grundsätzlich vergleichsweise eifrig bei Umfragen der EU-Kommission. Zudem trommelte die Initiative »Zeitumstellung abschaffen« im Internet für die Teilnahme an der Umfrage.

Im Frühjahr hatten sich in Deutschland in einer Umfrage im Auftrag der Krankenkasse DAK 73 Prozent gegen die Zeitumstellung ausgesprochen. Ein Viertel berichtete, schon einmal Probleme damit gehabt zu haben. Etliche Menschen leiden demnach nach dem Uhrendreh an Schlafstörungen. Zudem wurden Konzentrationsschwierigkeiten und Gereiztheit als Folgen angegeben. »Ob am Ende die Entscheidung für eine einheitliche Sommer- oder Winterzeit fällt, ist zweitrangig«, sagte DAK-Vorstandschef Andreas Storm. »Entscheidend ist, dass die jährlichen Zeitumstellungen wieder abgeschafft werden.«

Eingeführt wurde die Umstellung zur Sommerzeit nach der Ölkrise in den 70er Jahren in der Hoffnung auf Energieersparnis. In Deutschland gibt es sie in der heutigen Form seit 1980. Seit 1996 stellen die Menschen in allen EU-Ländern die Uhren einheitlich am letzten Sonntag im März eine Stunde vor - und am letzten Oktober-sonntag eine Stunde zurück. Ob der Zweck je erreicht wurde, ist unklar. Die Deutschen knipsen laut Umweltbundesamt an länger hellen Sommerabenden tatsächlich seltener das Licht an - im Frühjahr und Herbst wird jedoch morgens mehr geheizt. dpa/nd

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