Wenn der Satan »entzückend« sagt

Michail Bulgakow: Sein Roman »Der Meister und Margarita« ist ein fantastisches Vergnügen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Wie sollte man je vergessen, was an den Moskauer Patriarchenteichen geschah, nachdem Annuschka das Öl verschüttet hatte. Wer einmal Michail Bulgakows Roman »Der Meister und Margarita« gelesen hat - und seis noch so viele Jahre her -, wird sich auch an den Riesenkater Behemoth erinnern, daran, wie es bei einer Varietévorstellung Zehnrubelscheine regnete, wie geschenkte Pariser Roben sich in Nichts auflösten. Und erst im zweiten Teil: der Flug Margaritas auf einem Besen durch die Nacht, der Ball, bei dem eine arme Tote namens Frida um Erlösung fleht Hätte der Chefredakteur dieser Zeitung nicht die Idee zu dieser Artikelserie gehabt - »Wiedergelesen« - wann hätte ich mir wohl für Bulgakows wunderbaren Roman nochmal die Zeit genommen? Ich sagte mir immer: Die vielen Bücher im Regal zu Hause müssen warten, denn auf dem Schreibtisch türmen sich die Neuerscheinungen. Das Augenblickliche ruft dir zu, was du sollst, was du musst - solcher Kurzatmigkeit will diese Artikelserie etwas entgegensetzen: keinen Kanon von Büchern, die man unbedingt gelesen haben muss, so vermessen sind wir nicht, aber doch den Hinweis auf literarische Leistungen, denen man sich wieder einmal annehmen sollte. Interessant ist ja auch, wie man heute etwas anders liest als früher. Bulgakows Roman ist ein Vergnügen. Keine Sekunde wird dieser Text langweilen. Mitreißen lassen kann man sich wie vom tollsten Unterhaltungsschmöker. Und vertiefen in jeden Satz, sich jedes Bild konzentriert vor Augen führen, erkennen, was darin verborgen ist. Denn der Roman lebt von Anspielungen, die man umso besser versteht, je mehr man inzwischen über die Moskauer Wirklichkeit der 30er Jahre weiß. Wenn eine Wohnung als verzaubert gilt, weil daraus immer wieder Menschen verschwinden, ist einem ja heute klar, dass das durchaus irdische Mächte bewirkten. Eine psychiatrische Klinik wird beschrieben, in der (von der Miliz eingelieferte!) Patienten Einzelzimmer mit Toilette und Bad haben - der reinste Hohn! Die das Manuskript damals lasen, müssen sich die Bäuche gehalten haben oder in Tränen ausgebrochen sein. Aber wer schon! 1928 bis zu seinem Tode 1940 hat Michail Bulgakow an seinem Meisterwerk gearbeitet; erst 1973 wurde es in der Sowjetunion vollständig publiziert. Zwei Jahre später erschien die kongeniale Übersetzung von Thomas Reschke im Verlag Volk und Welt Berlin, DDR, die auch heute noch zu haben ist, leider ohne das glänzende Nachwort von Ralf Schröder, das auch ein »Wiedergelesen«-Erlebnis ist. Annuschka hat also das Öl verschüttet, weshalb Michail Alexandrowitsch Berlioz, allmächtiger Vorsitzender der Literatenassoziation MASSOLIT (Abkürzung für Massenliteratur, damals offiziell positiv besetzter Begriff; gemeint ist die RAPP, die Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller), ausrutscht und unter die Straßenbahn gerät. So weit, so logisch. Der ihn begleitende junge Lyriker Iwan Besdomny wird allerdings ob dieses Vorfalls ver-rückt - rückt ab von seinem bisherigen Weltbild - weil dieser Tod in allen Einzelheiten von einem seltsamen Ausländer vorausgesagt worden war, der sich Prof. Voland nennt. Voland wie Mephisto in Goethes »Faust« während der Walpurgisnacht. »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«, hieß es da. Aber der Satan, der mit seinem Gefolge in Moskau einzieht, ist von etwas anderem Kaliber: ein Schalk scheinbar, dabei eigentlich Mahner und Rächer. Ein Robin Hood. Ein Weiser, dem es an Gelassenheit fehlt und an Demut, der zornig ist aus verletztem Stolz. Berlioz läge nicht kopflos im Sarg, hätte er dem Unbekannten an den Patriarchenteichen auf die Frage, ob er, wenn er die Existenz von Jesus Christus verneint, auch nicht an Gott glaube, nicht dermaßen überheblich geantwortet. »Sie sind Atheisten?«, flötet Voland, »Oh, wie entzückend!« Es folgt ein mit Witz geführter Disput darüber, wer denn dann die Geschicke der Menschen bestimmt. »Und der Teufel, den gibts wohl auch nicht?«, so Voland, der von Berlioz mal für einen Spion, mal für einen Kranken gehalten wird. »Was ist das denn hier bei euch? Alles, was man antippt, gibt es gar nicht!« Tatsächlich ist es das Unwirkliche der Moskauer Wirklichkeit das den Leser so frappiert. Selbst der »Meister« und seine große Liebe Margarita bleiben (was mir erst jetzt so auffällt) in ihren Charakteren seltsam verschwommen. Dabei versteht man - insbesondere nach der erst in den 90er Jahren von Ralf Schröder initiierten Publikation von Bulgakows Tagebüchern -, wieviel von seinen eigenen Bedrängnissen und Ängsten, auch von seiner Müdigkeit der Autor verschlüsselt in die Gestalt des »Meisters« hineingeschrieben hat. Halluzinationen und Täuschungen allenthalben. Banales wird zum Albtraum. Wohingegen der Traum in den kräftigsten Farben der Realität erstrahlt. Gemeint ist die Geschichte um Pontius Pilatus, wie sie der »Meister« in einem Manuskript gestaltete. Von Kritikern als »militanter Popenknecht« diffamiert (so wie auch Bulgakow schärfsten Angriffen ausgesetzt war), versuchte er es zu verbrennen. Aber - dies wurde zum geflügelten Wort - »Manuskripte brennen nicht«. Des Meisters Erzählung von Pontius Pilatus, die sich mit der Überlieferung des Neuen Testaments nicht zufrieden gibt, erhält von Volands (und des Autors) Seite den Status von Wirklichkeit, in der sich auf durchaus widersprüchliche Weise Gerechtigkeit durchsetzt. Ein Wunsch, an dem Bulgakow in seinem Alltag verzweifelte. Das spüre ich heute in jedem Satz. Und trotzdem kein bitteres Buch, sondern eines voll wilder Lebenslust! Die Energie, die es dazu bedurfte, die Kraft, mit der trotz allem Sinn behauptet wird - das ist es im Grunde, was einen beim Lesen so mitreißt. Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Sammlung Luchterhand. 510 S., brosch., 10 EUR.

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