Es kommt die Zeit ...

  • Lesedauer: 2 Min.

Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes. Nun ja, man kann den altgriechischen Begriff auch anders übersetzen. Demokratie, so heißt es in einem Online-Lexikon, »ist ein politisches Prinzip, nach dem das Volk durch freie Wahlen an der Machtausübung im Staat teilhat«. Zwischen diesen beiden Definitionen (die erstere zählt zu den populären, gerne auch lautstark mit dem Ruf »Wir sind das Volk!« verstärkt) liegen Welten. Ob das Volk unmittelbar herrscht oder nur an der Machtausübung im Staat teilhat, in dem es seine Interessen an gewählte Vertreter delegiert, ist ein großer Unterschied.

Die Verlockung ist groß, die Volksherrschaft zu bevorzugen, denn wer wünscht sich nicht selbst mehr Entscheidungsmacht über die Dinge, die ihn selbst betreffen bzw. von denen er sich betroffen fühlt. Nicht die Parlamente, die gewählten Abgeordneten sollen für die Bürger entscheiden, sondern diese ihre Belange selbst bestimmen. Volksentscheide und -abstimmungen gelten deshalb heute per se als zivilisatorischer Fortschritt und sollen helfen, die Krise der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie zu überwinden.

Die Verteidiger solcher Volksabstimmungen berufen sich gerne auf das antike Athen. Die Demokratie im alten Athen war zwar auch in einer Zeit der Krisen entstanden. Die sozialen Spannungen in der Gesellschaft hatten zugenommen und um sie zu mildern, sollte das Volk (nur die freien Männer!) an der Machtausübung beteiligt werden. Der Zugang zum Forum der Abstimmung war jedoch nicht gleichberechtigt geregelt, sondern hing von der wirtschaftlichen Stellung des männlichen Bürgers ab. Und auch schon vor zweieinhalbtausend Jahren galt: Durchgesetzt haben sich oftmals nur die, die am lautesten schreien konnten oder jene, die sich am Besten organisierten, und nicht selten wurden Partikularinteressen zum Volkswillen verklärt, siegte das populistische Argument über das Gesetz, ließ man am Ende das Volk nur noch über unwichtige Dinge abstimmen.

Im Zeitalter der virtuellen Realität der sozialen Netzwerke ist der demokratische Fortschritt auf ähnliche Weise in bloßen Populismus umgeschlagen. Wer schweigt, so die perfide, unausgesprochene Unterstellung, stimmt zu. Vor wenigen Tagen endete eine EU-weite Umfrage. Die EU-Kommission bat das Volk um seine Meinung zur Sommer- und Winterzeit. Sie wollte wissen, ob man künftig auf die Zeitumstellung verzichten soll. Man soll, meinten 84 Prozent der 4,6 Millionen, die antworteten, darunter 3 Millionen allein aus Deutschland. Das Volk in den sozialen Netzwerken wähnt sich als Sieger. Die EU-Kommission kündigte an, dem »Volkswillen« zu folgen. Die Volksherrschaft hat gesiegt! Wir sind das Volk! Wenigstens zeitweise. jam Foto: imago/Paul von Stroheim

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal