Der Kellner des Grauens

Vor 100 Jahren wurde ein vermeintlicher Massenmörder in Berlin als Schwindler enttarnt

  • Bettina Müller
  • Lesedauer: 4 Min.

Berlin, 14. Juni 1914. Die Berliner Kriminalpolizei macht einen grausigen Fund. In einem großen braunen Karton finden sie in der Spree in Höhe des Schlesischen Tors die Leiche der achtjährigen Schülerin Else Ley. Den letzten Weg des Mädchens können sie nur bis zu einer bestimmten Stelle rekonstruieren, dann verliert sich ihre Spur, weil sich das spätere Opfer von einer Mitschülerin verabschiedet hat und das letzte Stück des Weges alleine gegangen ist.

Der einzige Hinweis auf den Täter: ein brauner Karton mit der handgeschriebenen Zahl »1328«, den eine Prostituierte wieder zu erkennen glaubt und den ihr ehemaliger Geliebter, der aus Ungarn stammende Kellner Ludwig Herrnfeld, nach ihrer Trennung mitgenommen haben soll. In den nächsten Wochen wird sich mehrmals wahlweise ein angeblicher Vertreter der Staatsanwaltschaft oder ein Kriminalbeamter telefonisch bei der Berliner Polizei melden und gegen Herrnfeld schwerste Anschuldigungen äußern. Von begangenen Sittlichkeitsverbrechen bis hin zu Mord ist in den mysteriösen Anrufen die Rede. Außerdem, so beteuert der Mann mit dem angeblichen Insiderwissen, sei Herrnfeld auch der Mörder der kleinen Else. Beharrlich drängt der Mann auf eine sofortige Festnahme des vermeintlichen Verbrechers.

Nur wenige Monate zuvor hat die Potsdamer Polizei einen derartigen Anruf für bare Münze genommen. Im Potsdamer Forst soll Herrnfeld, »der Doppelmörder vom Teufelssee«, am 27. Februar 1914 die beiden Arbeiterfrauen Witt und Schwark erschlagen haben. Die Polizei wähnt sich zunächst auf der sicheren Seite. Der tatverdächtige Kellner zeigt sich nach seiner Verhaftung kooperativ und legt sogar ein teilweises Geständnis ab. Am 21. September 1918 steht die angebliche Bestie, die innerhalb von fünf Jahren noch zahlreiche andere Morde begangen haben soll, vor der Sechsten Strafkammer des Berliner Landgerichts I.

Kriminalkommissar Ernst Gennat, der wegen seiner Leidenschaft für Torten und seinem dadurch nicht unerheblichen Körpergewicht insgeheim »der Buddha« genannt wird, ist zu verdanken, dass Herrnfelds lange währender pathologischer Schwindel endlich auffliegt. In gewohnter Weise verbeißt sich Gennat, der zu den erfolgreichsten Berliner Kriminalisten seiner Zeit zählt, in den Fall und kommt am Ende zu dem Ergebnis, dass Herrnfeld stets selber der mysteriöse Anrufer und denunziatorische Briefschreiber war. Pech für Herrnfeld, dass Gennat, der modernste Ermittlungsmethoden benutzt, dessen Fingerabdrücke auf den Umschlägen per Joddampf zweifelsfrei identifizieren kann. Vor Gericht muss sich Herrnfeld deshalb wegen wiederholter unbefugter Amtsausübung und Urkundenfälschung verantworten.

Die Gerichtsverhandlung erweist sich als schwierig. Mehrmals muss sie vertagt werden, weil der Angeklagte nach epileptischen Anfällen zusammenbricht. Dass sie einen psychisch sehr kranken Mann vor sich haben, wird dem Gericht sehr schnell klar. Herrnfeld ist bereits in der »Irrenanstalt« Herzberge auf seinen Geisteszustand untersucht worden. 1887 hat die Berliner Stadtverordnetenversammlung die Errichtung dieser weiteren städtischen »Irrenanstalt« beschlossen, die - 1893 eröffnet - ab 1945 als »Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge« weitergeführt wird.

Die Ärzte kommen zu dem wenig aufschlussreichen Ergebnis, dass bei Herrnfeld tatsächlich ein »gewisser Krankheitszustand« vorliegt. Doch da gibt es noch ein zweites zeitnahes Gutachten, das ihm aufgrund der Beteiligung an einem Einbruch im großen Stil im Kaufhaus Singer & Co. in der Chausseestr. 61/62 Ende November 1917 volle Zurechnungsfähigkeit bescheinigt. Es sei wohl der sonderbarste Fall, der je vor einem Gericht vorgekommen, dass jemand sich selbst fortgesetzt schwerster Verbrechen beschuldige, bemerkt der Vorsitzende nach der Gerichtsverhandlung, schon der Laie müsse sich sagen, dass hier die Handlung eines Geisteskranken vorliege.

Herrnfeld kann dem Gericht glaubhaft versichern, dass er seit Jahren einem inneren Zwang folge, sich selber Schaden zuzufügen, vorzugsweise nach schweren Kapitalverbrechen. Wenn er einmal die polizeiliche Bekanntmachung an einer Litfaßsäule gesehen habe, gebe es für ihn kein Halten mehr. Herrnfeld schreibt dann oft die Beschuldigungsbriefe gegen sich selbst.

Am Ende wird der Angeklagte freigesprochen und in der Einbruchssache wird Revision eingelegt. An dieser Stelle greift der damals sehr umstrittene Paragraf 51 (Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich - RStrGB aus dem Jahr 1871): »Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.«

Das weitere Schicksal des pathologisch geltungssüchtigen Lügenbolds Ludwig Herrnfeld ist ungeklärt.

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