Kühler Beobachter

Ein Band mit gesammelten Erzählungen zum 100. Todestag von Eduard von Keyserling

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Dass er ein großer, ein bewundernswert leiser und zauberhafter Autor war, erkannte man früh. Seine namhaften Kollegen, Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Herman Bang, Lion Feuchtwanger, Alfred Polgar, haben es nach Kräften weitergesagt. Hermann Hesse ließ beinah keine Gelegenheit aus, in seinen Buchempfehlungen für ihn zu werben. 1909, als er zwei seiner Novellen besprach, rühmte er einen Erzähler, der keine »Stoffe« und kaum eine »Handlung« braucht, »der einen Sommernachmittag so zu beschreiben versteht, daß man während seines Glühens und Verdämmerns das Gefühl des ganzen Lebens hat«. Sie alle waren entzückt von der Stille, den Farben und dem betörenden Duft dieser Prosa, und trotzdem ist Eduard von Keyserling nie wirklich populär geworden.

Manchmal war er vergessen, doch dabei ist es glücklicherweise nie geblieben. Immer wieder haben Verlage, S. Fischer, Rütten & Loening, Steidl und Manesse, seine Bücher gedruckt, vor allem die Romane, und nun, zu seinem 100. Todestag am 28. September, setzt Manesse sein Engagement mit einer großartigen, attraktiven Jubiläumsausgabe der Erzählungen fort. Zum ersten Mal sind in dem Band »Landpartie« so viele Kurz- und Kürzestgeschichten versammelt wie in keiner anderen Auswahl zuvor. Fünf der hier präsentierten Prosaarbeiten, entdeckt in alten Zeitschriften, standen sogar noch nie in einem Buch. Herausgeber Horst Lauinger hat den Texten, wiedergegeben nach den Erstdrucken, auch die orthografische Gestalt gelassen, somit Schreibweisen wie Lieutnant oder Liqueur nicht angetastet. Rühmenswert dazu der Anhang mit detaillierten Angaben und Erläuterungen zu jeder Geschichte, einer Zeittafel, dem Nachwort von Florian Illies und, auch das ein Novum, dem umfangreichen Literaturverzeichnis am Schluss. So fundiert und hilfreich ist Keyserling den Lesern lange nicht ans Herz gelegt worden.

Er kam aus einer Welt, die schon vor ewigen Zeiten versank, geboren im Mai 1855 auf einem kurländischen Gut, zehntes von zwölf Kindern, ein dürrer, aufgrund einer Syphiliserkrankung zerbrechlicher Mann, der 1895 nach München zog und dort, so lange es ihm möglich war, in der Boheme verkehrte. Er hauste in einer bescheidenen Drei-Zimmer-Wohnung, versorgt von seinen Schwestern Henriette und Elise, die schließlich auch aufschreiben mussten, was er ihnen diktierte. Seit 1908 etwa war er blind und konnte sich nur noch auf Krücken bewegen. In seiner Prosa hielt er fest, was er nicht mehr sehen konnte und nun, in ungewöhnlich sinnlichen, schnörkellosen Sätzen, zum Leuchten brachte: die Landschaft seiner Herkunft, die blühenden Wiesen, die Pavillons und Seerosenteiche. Er erzählte von Schlossherren, Junkern und jungen, schönen Frauen, die Feste feiern, sich unterhalten und spazieren gehen, die müde sind und leiden, auch wenn man es ihnen nicht unbedingt ansieht. Sie laufen durch die Dünen, kümmern sich um ihre Güter, gehen auf die Jagd, trinken Tee, machen eine Segelpartie, führen feinsinnige Gespräche. Und dennoch fehlt ihnen etwas. Die Sehnsucht nach einem Dasein, in dem sie nicht so verloren, nicht so einsam sind, werden sie nicht los. Und wehe, es passiert etwas Unverhofftes, von draußen bricht gar das Unheil, der Krieg, in ihre Welt, dann bleibt den beiden Soldaten in einer Erzählung von 1914 nur, in der Gefechtspause von einer früheren Liebe und den hellen Sommern zu träumen.

In der Titelgeschichte von 1908 bricht man zu einer Landpartie auf, zu der auch eine Sängerin geladen ist, man sitzt auf Polstern und Teppichen oder macht es sich auf der Wiese bequem, lässt sich von Dienern die Erdbeerbowle reichen, schwärmt von vergangenen Zeiten und kann sich bei alledem nicht wirklich über den schönen Tag freuen. Auf der Fahrt durch den Wald hatte schon der Sohn des Barons nicht gewusst, »warum das alles plötzlich so traurig ist, so traurig wie in einer Schulstube«. Auch Ria, die Sängerin, spürt »etwas schmerzhaft Bedrückendes«: »Es war, als wären lang verschlossen gestandene Restaurationskabinetts geöffnet, in denen es dumpfig nach Plüsch, nach abgestandenen Parfüms und Zigarettendampf riecht.«

Manche haben Keyserling als einen Nostalgiker gesehen, der dem Verlorenen nachtrauert. Sie verwechselten die naiven Ansichten und schwärmerischen Erinnerungen seiner Figuren mit denen des Autors. Sie sahen nicht, mit welch distanziertem, illusionslosem Blick er diese müde Adelsgesellschaft vorführte, die sich am Vergangenen wärmt und nicht weiß, dass sie eine Zukunft nicht haben wird. Dabei sind ja die Anzeichen für die Auflösung der vertrauten Verhältnisse und Normen schon an winzigen, banalen Kleinigkeiten zu erkennen. Der Knabe in der Geschichte von der Landpartie erscheint, zum Unwillen des Vaters, in gestopften Strümpfen, während all die anderen in ihren Sonntagsroben posieren. Und am Schluss ist er der Einzige, der sich ergriffen an die Sängerin schmiegt, die »die Qual ihrer Seele, all das Dumpfe und Schwüle, all das Wunde und Gebrochene, ihre Begehrlichkeit und ihre Hoffnung« in den Liedvortrag legte, indes die Zuhörer ängstlich und eilig zum Aufbruch drängen, »als müssten sie sich vor etwas schützen«.

Keyserling, Außenseiter schon durch seine Hässlichkeit, den gekrümmten Körper und das faltige Gesicht, stellte den baltischen Adel mit seinem Schönheitsdurst und der Venedig-Schwärmerei bloß, indem er ihn mit unbarmherziger Genauigkeit und feiner Ironie beschrieb. Da war weder Wehmut noch Verklärung im Spiel. All seine Geschichten mit ihren hinreißenden Bildern und Stimmungen verdecken nicht, dass sie von einem kühlen Beobachter stammen. Er sei süß wie Theodor Storm, rühmte Lion Feuchtwanger 1915, »aber gleichzeitig viel, viel bitterer …«

Eduard von Keyserling: Landpartie. Gesammelte Erzählungen, hg. und kommentiert von Horst Lauinger. Manesse, 744 S., geb., 28 €.

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