Schutz vor Gaffern

Mobiles Sichtschutzsystem hält in Aachen Schaulustige fern

  • Harald Lachmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Alle zwölf Sekunden kracht es irgendwo auf deutschen Straßen. Die Zahl der Unfälle steigt seit Jahren, 2107 waren es bereits gut 2,6 Millionen. Für eine sehr spezielle Klientel in der heutigen Mediengesellschaft eröffnet sich damit ein wachsendes und zugleich höchst perverses Betätigungsfeld: Erspäht man einen Unfall, bremst man scharf, doch nicht um Hilfe zu leisten, sondern um zu gaffen oder gar per Smartphone das tragische Geschehen zu filmen. Wer dieses dann als erster ins Netz stellt, fühlt sich als der Größte. Manches Unfallopfer lande so inzwischen »schneller auf YouTube als auf dem OP-Tisch«, moniert ein Polizeisprecher in Dortmund.

Auch andernorts schauen Polizisten, erreichen sie eine Unfallstelle, immer wieder in die Objektive von Handykameras aus vorbeirollenden Autos. Zuweilen sollen solch kaltschnäuzige Voyeure sogar um die besten Plätze zum Ablichten rangeln, beobachten die Beamten. Dass sie damit zugleich massiv die Arbeiten der Rettungsdienste behindern und manchmal auch selbst zum Unfallrisiko werden, versteht sich von selbst. So krachte Ende 2017 solch ein Gaffer im bayrischen Stadtbergen in ein geparktes Auto: Er hatte nur noch Augen für einen Crash.

Bekanntlich reagierte inzwischen der Gesetzgeber und erließ teils schmerzhafte Strafen für solche Form absonderlicher Schaulust. Das Fotografieren oder Filmen von Unfallstellen oder Verletzten, mit denen quasi deren Hilflosigkeit zur Schau gestellt wird, gilt als Straftat und kann den Gaffer bis 1000 Euro Bußgeld kosten - oder sogar zwei Jahre ins Gefängnis bringen. Auch das hierbei benutzte Smartphone darf die Polizei einkassieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Filmchen dann im Internet auftauchen oder nicht.

Indes bleibe es schwierig solche Gaffer zu bestrafen, räumt der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Oliver Malchow, ein. Denn würden seine Kollegen zu einem Unfall gerufen, seien diese vor Ort voll ausgelastet: »Sie haben gar keine Zeit, die Hobby-Filmer aufzuhalten und dann auch noch Verfahren einzuleiten.« Auch vor diesem Hintergrund entdecken nun Handwerker ein neues Geschäftsmodell: Sie entwickeln und bauen transportable Sichtschutzsysteme, die sie dann zum Beispiel den 106 deutschen Berufsfeuerwehren für solche Unfalleinsätze anbieten.

Vorreiter hierbei ist Jürgen Duesmann, ein Metallbaumeister aus dem westfälischen Gronau. Er hatte selbst mal solch eine Smartphonefilmer-Orgie am Rande eines Autobahnunfalls erlebt und zugleich beobachtet, wie die Rettungskräfte vor Ort versuchten, das Geschehen notdürftig mit Bauzäunen und hochgehaltenen Decken vor fremden Blicken zu schützen.

Inzwischen ließ der 48-Jährige seinen »Gaffer Stop« patentieren und fand mit der Berufsfeuerwehr in Aachen auch einen ersten Abnehmer. Dort war es den Verantwortlichen wichtig, dass das System feuer- und sturmfest ist und sich ebenso zügig wie unkompliziert auf den Leitplanken der Autobahnen montieren lässt.

Nachdem es im April dieses Jahres erfolgreich getestet worden war, sei es nun im regulären Einsatz, so Aachens Feuerwehrchef Jürgen Wolff. Dank jenes flexiblen »Gaffer Stops« könnten seine Leute, die »bisher die Decken halten mussten, sich nun effektiv um die Bergung der Verletzten kümmern«.

Dazu verstaut die Aachener Feuerwehr das Sichtschutzsystem aus Gerüstplanen, zusammensteckbaren Rohren und Halterungen in einem Rüstfahrzeug, das ihren Kranwagen stets zu schweren Unfällen etwa auf Autobahnen begleitet. Zwei Leute könnten damit dann binnen zehn Minuten 60 Meter Sichtschutz errichten, testete Duesmann zuvor. Die Aachener Feuerwehr, die hierfür immerhin 5500 Euro berappte, hatte mit dem Erfinder dessen Prototyp noch dahingehend modifiziert, dass man die Halterungen nun auch mit dicken Feuerwehrhandschuhen gut anpacken und arretieren kann.

»Das System erfüllt seinen Zweck«, heißt es in Aachen. Denn wer bei einem Unfall nichts sehen könne, bremse auch nicht zum Gaffen ab, so dass der passierende Verkehr flüssiger rolle, beobachtete der stellvertretende Aachener Wehrleiter Bernd Geßmann. Eine Erfahrung, die die nordrhein-westfälische Landesstraßenbauverwaltung inzwischen auch mit anderen Modellen für mobile Stellwände machte. Der Effekt sei stets positiv, versicherte eine Sprecherin. Sobald die Sichtbarrieren am Unfallort stünden, normalisiere sich der Verkehrsfluss in kurzer Zeit. Auffahrunfälle, etwa am Stauende, nähmen dadurch deutlich ab.

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