Auf der Suche nach den Gründen der Wut

Petra Köpping will, dass über den Osten nicht mehr nur im Osten geredet wird - ihr erstes Buch soll dazu beitragen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Kernfrage wurde schon im zweiten Satz gestellt. »Woher kommt all die Wut?«, fragte Petra Köpping in einer Rede am Reformationstag des Jahres 2016. Die SPD-Politikerin aus Sachsen suchte an jenem 31. Oktober erstmals öffentlich nach Gründen dafür, dass in Ostdeutschland das Vertrauen in die Demokratie in erschreckendem Maße erodiert ist. Ihre These: Die Gründe liegen nicht in der DDR, sondern in den Ereignissen nach deren Ende. Man werde keine befriedigende Antwort finden, wenn man sich nicht »ehrlich und offen mit der Nachwendezeit« beschäftige.

Zwei Jahre sind seit der Rede vergangen, und die Frage hat an Brisanz seither eher gewonnen als verloren. Auf der Welle der von Köpping diagnostizierten Wut fuhr die AfD bei der Bundestagswahl 2017 im Osten Erfolge ein. In Sachsen wurde sie stärkste Partei; nach der Landtagswahl 2019 könnte sie es in die Regierung schaffen. Auch in Ostdeutschland insgesamt liegt sie in Umfragen vorn, obwohl ihr Führungspersonal in Chemnitz den Schulterschluss mit Rechtsradikalen übt. Danach war wieder viel vom »braunen Osten« zu lesen.

Wer jenseits platter Schulmeisterei nach Gründen sucht, findet sie in dem Buch, in dem Köpping die Thesen ihrer Rede jetzt breiter ausführt und ergänzt. Es zitiert im Titel »Integriert doch erst mal uns« einen Satz, den sie nach ihrem Amtsantritt als sächsische Ministerin für Integration und Gleichstellung im Jahr 2014 oft von »Wutbürgern« zu hören bekam. Er stellt eine Parallele zwischen den Erfahrungen von Ostdeutschen und Migranten her - die, wie die Soziologin Naika Fourutan zuletzt wiederholt argumentierte, durchaus bestehen. Fourutans Thesen haben ebenso frischen Wind in die Diskussion gebracht wie das viel beachtete Buch »Wer wir sind«, in dem der Soziologe Wolfgang Engler und die Schriftstellerin Jana Hensel den Versuch starten, »den Osten (zu) verstehen«.

Köpping unternimmt ihn ebenfalls, und zwar aus der Innenperspektive. Die heute 60-Jährige wurde 1989 Bürgermeisterin von Großpösna, einem Ort im Leipziger Kohlerevier. 1990 gab sie das Amt auf und habe »nie wieder Politik« machen wollen, wie sie sagt. Schon 1994 wurde sie aber erneut gewählt - in einer Zeit, in der die Kohlegruben zu einer Seenlandschaft umgestaltet wurden, aber Zigtausende Kumpel ihre gut bezahlten Arbeitsplätze verloren. Sie sagt heute, die Politik habe sich in jener Zeit »viel um Infrastruktur gekümmert und weniger um die Menschen und ihre Gefühle«.

In dem Buch, das laut Untertitel eine »Streitschrift für den Osten« sein soll, taucht sie noch einmal in diese Zeit, in der »vom Geld bis zur Butter« plötzlich alles neu war, in der die Treuhand Betriebe zu Hunderten abwickelte und Führungspositionen an Westdeutsche vergeben wurden, die dafür eine »Buschzulage« erhielten. Sie beschreibt »Ungerechtigkeiten, die bis heute bestehen«, etwa in Form verwehrter Rentenansprüche für Bergleute, Eisenbahner oder geschiedene Frauen. Sie fragt, wo die »ostdeutschen Eliten« blieben, während Führungsjobs in Politik, Justiz oder Wirtschaft von anderen besetzt wurden, und sucht zu erklären, was die »Entwertung« ihres Lebens bei Menschen bewirkt - eines Lebens, das sie laut offizieller Geschichtsschreibung in einem »Unrechtsstaat« verlebt haben sollten, was aber der eigenen Erfahrung oft nicht entspricht.

Vieles davon ist für sich genommen nicht neu. Köpping bündelt die Themen - und hofft, dass es ihr gelingt, so eine breitere Debatte anzustoßen: »Es ärgert mich, dass die Diskussion über den Osten nur im Osten geführt wird.« Ihr Buch sei »kein Buch gegen den Westen«, vielmehr solle es ein neues »Bündnis zwischen Ost und West« anstoßen. Dass es ein solches braucht, ist eine von sechs Thesen, in denen sie ausführt, was ihrer Ansicht nach zur Bekämpfung der schon 2016 diagnostizierten »Wut« notwendig ist: eine Aufarbeitung der Treuhand bis hin zur Einrichtung von »Wahrheitskommissionen«; ein ehrliches Erzählen und Zuhören; die »Reparatur« wenigstens mancher Ungerechtigkeiten bei den Renten. Viele Vorschläge wirken so sinnvoll wie fromm.

Petra Köpping: »Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten«. Ch. Links Verlag 2018, 204 Seiten, 18 Euro.

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