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Wackelpop & Retrojazz

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 3 Min.

Der bleiche junge Mann vor rosarotem Hintergrund sieht mit seinem giftgrünen 6oer-Jahre-Kurzärmelpullover so aus, als hätte er in seiner Jugend zu oft die Alben von Devo und Oingo Boingo gehört, die er im Plattenregal seiner Eltern gefunden hat, und sei zu wenig an der frischen Luft gewesen. Zu allem Überfluss hält er sich ein Hühnerei vor die Brust und hat dabei die Augen geschlossen, als würde er gerade eine sehr innige Empfindung haben. Kurz: Der auf dem Plattencover zu sehende Mann ist ein Genie.

Jerry Paper, der eigentlich Lucas Nathan heißt, ist 28 Jahre alt, Songschreiber und Multiinstrumentalist und kommt aus Los Angeles. Seine zeitweise sich wie in Zeitlupe aus dem Lautsprecher wurschtelnden bzw. daraus hervortropfenden, irgendwie windschief und wunderlich wirkenden Wackelpudding-Synth-Popminiaturen, die teils nach Kaufhausmusik und teils nach zu spät abgebrochenem Kunsthochschulstudium klingen, erwecken beim Hörer den Eindruck, es seien schmeichelige, süßliche Softrock-Songs aus den 70er Jahren, die allesamt von dem schrulligen Avantgarde-Komponisten Harry Partch (1901 - 1974) nachträglich irgendwie erfolgreich verbogen und verfremdet und vermurkst worden sind. Musik also für Leute, die sich beim Musikhören nicht zu sehr anstrengen wollen, es aber trotzdem auch gerne mal kompliziert und vertrackt mögen.

In den Liedern geht es häufig um die wichtigste Sache überhaupt, die den modernen Menschen ausmacht: den Kaufakt und die heitertraurige Welt der modernen Einkaufszentren und Shopping Malls. Ich kaufe, also bin ich. Überhaupt wird der Wert eines Menschen davon bestimmt, ob er genug Waren und Geld besitzt. Und auch ins Himmelreich wird er nach dem Tod nur einchecken können, wenn er Zeit seines Lebens seine Finanzunterlagen stets sauber geordnet gehalten hat: »And when I melt with the holy mind they’ll add / My net worth to the checking account.«

Wem dieser kauzige, gesellschaftsanalytische Psychopop nicht gefällt, der muss halt Jazz hören, und zwar am besten diesen hier, spätabends im Sommerwind, bei geöffneten Fenstern: Der englische Saxofonist und Flötenspieler Chip Wickham hat ein eklektisch und stark nach Retro klingendes Album vorgelegt, das auch ohne weiteres Anfang der 60er Jahre auf dem Jazzlabel Blue Note hätte erscheinen können. Sofort denkt man beim Zuhören auch an Wickhams großes Vorbild, den Saxophonisten Sahib Shihab bzw. insbesondere dessen Album »Jazz Sahib« (1957), auf dem, wie hier, nicht zu knapp Einflüsse arabischer und afrikanischer Musiktraditionen erkennbar waren. Man hört hier auch deutlich, wie klassische Spiritual-Jazz-, Soul- und Funk-Elemente luftig und elegant durch die sechs Stücke gleiten. Sehr liebevoll gemacht ist das.

Jerry Paper: »Like A Baby« (Stones Throw/Roughtrade)

Chip Wickham: »Shamal Wind« (Lovemonk/Groove Attack)

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