Maulkorb für den Missbrauch-Melder

Bischof in Niedersachsen entsetzt über Vorvorgänger - »Fürchterliche Dinge« vertuscht

  • Hagen Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

»Ein Bischof, das war doch früher für uns fast schon ein Heiliger«, erinnert sich die 83-jährige Katholikin nach dem Gottesdienst, mit anderen Frauen die neuesten Nachrichten aus dem fast ganz Niedersachsen umfassenden Bistum Hildesheim diskutierend. Die Seniorin kann es kaum fassen, dass dort unter Verantwortung des von 1983 bis 2004 amtierenden Bischofs Josef Homeier sexueller Missbrauch durch einen Priester namens Peter R. an Kindern und Jugendlichen bewusst totgeschwiegen wurde.

Doch wer vielleicht noch Zweifel an diesem seit geraumer Zeit gärenden Vorwurf hegte, wurde jetzt durch den im September zum neuen Hildesheimer Bischof geweihten Pater Heiner Wilmer eines Besseren belehrt. Der Jesuit ist Nachfolger von Bischof Norbert Trelle, dem Homeier, er verstarb 2010, im Amt vorausgegangen war. Wilmer hat jetzt mit Blick auf aktuelle Erkenntnisse klargestellt: Im Zusammenhang mit Peter R. »hat der damalige Bischof Josef Homeier mit seiner Bistumsleitung nicht nur versagt, sondern sie haben fürchterliche Dinge zugedeckt.« Das sei eine Katastrophe, konstatierte Wilmer im NDR.

Ruf nach Gerechtigkeit

Die Opferorganisation Eckiger Tisch hat im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche die Einrichtung einer unabhängigen Gerechtigkeits- und Wahrheitskommission gefordert.

Der Staat sei gefordert, weil die Kirche eine konkrete Aufarbeitung nicht leisten könne, erklärte der Eckige Tisch. Solch eine Kommission könne Betroffene und Zeitzeugen anhören und Akten auswerten. International gebe es dafür Vorbilder in Irland, Australien und im US-Bundesstaat Pennsylvania. Ende September hatte die Deutsche Bischofskonferenz eine über mehrere Jahre entstandene Studie zum Missbrauchsskandal der katholischen Kirche in Deutschland präsentiert. Die Studienmacher stellten unter anderem fest, dass auch nach dem Bekanntwerden des Skandals vor acht Jahren die Kirche keine ausreichenden Schritte unternahm, um Missbrauch in Zukunft zu verhindern. AFP/nd

Katastrophal hatte die Bistumsleitung zu Homeiers Zeit zum Beispiel gehandelt, als sie ein Mitarbeiter über Peter R.s sexuelle Vergehen an jungen chilenischen und mexikanischen Frauen informierte. Jene Opfer hatte der Geistliche beim Besuch sozialer Einrichtungen im Ausland kennengelernt und nach Hildesheim eingeladen. Was er ihnen angetan hatte, erfuhr auch Bischof Homeier von dem Mitarbeiter, einem Diakon. Doch anstatt eines Dankes für seine Offenheit wurde dem Mann ein Maulkorb verpasst, drohte ihm die Kirchenleitung: Wenn er nicht über die Sache schweige, riskiere er eine Abmahnung. Nichts dürfe an die Öffentlichkeit kommen. Gegen Peter R. aber sei nicht eingeschritten worden, heißt es.

In einem Gespräch mit dem Diakon hatte Bischof Wilmer unlängst von all dem erfahren. Er versprach: Sein Bistum werde die von Peter R. missbrauchten Frauen kontaktieren und ihnen Hilfe anbieten. Auch habe die Kirchenleitung die Staatsanwaltschaft gebeten, weitere Vorwürfe gegen Peter R. prüfen zu lassen, der mittlerweile als Pensionär in Berlin lebt. Er ist in die Stadt zurückgekehrt, in der er sich vor vielen Jahren am Canisius-Gymnasium an zahlreichen Minderjährigen vergangen hatte. Erst 2010 erfuhr die Öffentlichkeit über den Missbrauch an jener Schule, an dem nicht allein Peter R. beteiligt war. Die Kirche hatte ihn damals nicht etwa den Strafverfolgungsbehörden angezeigt, sondern versetzt.

Nicht zum letzten Mal, denn mehrmals gab es gegen Peter R. Vorwürfe sexueller Belästigungen, und mehrmals gab es dann eine Versetzung des »Grabbelpriesters«, wie er kirchenintern genannt wurde und wird. Als Priester darf er nicht mehr tätig sein, verfügte ein Kirchengericht. Es hatte ihn wegen eines Missbrauchfalls in Hildesheim zu 4000 Euro Geldstrafe verurteilt, und es befasst sich noch immer mit Vorwürfen gegen den geweihten Mann.

Im Bistum Hildesheim war er nicht der Einzige, der sich an Minderjährigen verging. Dort seien seit den 1960er Jahren bis heute, so Bischof Wilmer, mindestens 153 Menschen Opfer sexueller Gewalt geworden. Beschuldigt seien 46 Geistliche, von denen 36 verstorben sind. Die übrigen seien bestraft worden, teils staatlicherseits, teils durch innerkirchliche Sanktionen. Eine Dunkelziffer sei nicht auszuschließen, räumte Bischof Wilmer ein. Die Kirche, so betonte er, dürfe in puncto sexueller Missbrauch keine »Binnenkultur« pflegen. »Externer Sachverstand« sei wichtig bei der Aufklärung der Vorwürfe, und diese Unterstützung will sich das Bistum nun holen. Und es werde, das kündigte der Bischof unlängst an, Akten zum Missbrauchsgeschehen »auch für Externe« öffnen.

Das wird Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza (CDU) begrüßen. Sie will, dass die Bistumsleitung den Staatsanwaltschaften Einsicht in interne Unterlagen zu Missbrauchsfällen gewährt. Denn deren Aufklärung, so betont die Ressortchefin, »ist selbstverständlich Aufgabe der Justiz und nicht der Kirche«.

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