Der Oury-Jalloh-Komplex

Unabhängige Untersuchungskommission will die Ermittlungen im Fall des verbrannten Asylbewerbers übernehmen

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Autopsiefoto des 1997 verstorbenen Hans-Jürgen Rose spricht Bände. Der ganze Rücken und das Gesäß des 36-Jährigen sind voller Striemen. »Insgesamt habe ich 45 Schläge gezählt und ich vermute, dass sie von drei verschiedenen Polizeibeamten stammen«, berichtete der Frankfurter Arzt Claus Metz auf einer Pressekonferenz der Gedenkinitiative Oury Jalloh am Dienstag in Berlin. Der grausige Verdacht des Experten: Der betrunkene Rose wurde zweimal in jener Nacht vor elf Jahren in Dessau festgenommen. Beim zweiten Mal hätten ihm die Beamten möglicherweise einen »Denkzettel« verpassen wollen. Es gebe »Hinweise«, dass er für »systematische Prügel« mit seiner linken Hand an eine Säule in der Kantine des Polizeireviers in der Wolfgangstraße gefesselt worden sei. »Ein Schlagstock ist geeignet, das festgestellte Verletzungsbild zu verursachen«, heißt es auch in einem Bericht der Rechtsmedizin von 1998.

Ein Passant fand Rose einige Stunden später und nur wenige Häuser vom Revier entfernt mit schweren inneren Verletzungen, der Kopf im Schnee. »Die Eingeweide sind geborsten«, erklärte Metz. Und: Vermutlich sei Rose in der aufgefundenen Position platziert worden. Im Krankenhaus verstarb der Mann. Die Schlagstöcke der Polizisten des Reviers wurden zwar konfisziert, die Ermittlungen aber zügig eingestellt.

Fünf Jahre später, 2002. Polizisten brachten den wohnungslosen Mario Bichtemann in die besagte Dessauer Wache. Fünfzehn Stunden später lag er mit einem Schädelbasisbruch tot in seiner Zelle. Ein Verfahren gegen den Dienststellenleiter Andreas S. wurde eingestellt. Weitere drei Jahre später, im Januar 2005. Der Asylbewerber Oury Jalloh verbrannte gefesselt in der Zelle, in der auch Bichtemann verstarb. Der Gruppenleiter Andreas S. und Bereitschaftsarzt Andreas B. hatten bereits im Fall des Wohnungslosen Dienst.

»Wir gehen von einem Oury-Jalloh-Komplex aus«, sagte Vanessa Thompson, die Sprecherin einer Anfang des Jahres geschaffenen unabhängigen Untersuchungskommission. Neben Thompson ist auch der Arzt Claus Metz Teil der Initiative, dazu gibt es Rechts-, Rassismus- und Forensik-Experten aus Italien, Großbritannien und weiteren Ländern. Das internationale Gremium will die Fragen von struktureller Gewalt und institutioneller Straflosigkeit nun selbst aufklären, da von staatlicher Seite dies kaum mehr zu erwarten sei. »Vom ersten Tag an bis heute hat ein Abschalten sämtlicher staatlicher Kontrollmechanismen stattgefunden«, berichtete Gabriele Heinecke, die Anwältin der Familie Jalloh. Beate Böhler, ebenfalls juristische Vertreterin der Angehörigen, fügte hinzu: »Es gibt gegenseitige Abhängigkeit der Behörden, eine Missachtung der gesetzlichen Vorschriften, weitere Todesfälle und Ansatzpunkte für manipulierte und zerstörte Beweismittel.«

Um ihrer Arbeit nachgehen zu können, fordert die Untersuchungskommission eine vollständige Akteneinsicht in den Fällen Jalloh, Rose und Bichtemann, die Überführung der Asservate von Oury Jalloh von Halle nach Berlin sowie die Freigabe von Beweismitteln. Mit den zuständigen Behörden stehe man in Kontakt.

Der italienische Rechtsspezialist Mario Angelelli, auch Kommissionsmitglied, kritisierte, dass der Generalbundesanwalt eine Übernahme des Jalloh-Komplexes weiterhin verweigert. Begründet würde dies der Kommission gegenüber mit der für eine Übernahme fehlenden »besonderen Bedeutung«, keiner »dauerhaften strukturellen Fehlentwicklung« bei den Behörden sowie der nicht erkennbaren Beeinträchtigung des »Staatsschutzes«. Für Angelelli ist diese Argumentation nicht nachvollziehbar. »Es war offenbar gelebte Praxis in Dessau, alkoholisierte Personen festzunehmen, ohne dass Richter davon Kenntnis hatten.«

Die Anwältinnen der Angehörigen beklagten, dass die offiziellen Ermittlungen feststecken. Ende des vergangenen Jahres hatte die Justizministerin von Sachsen-Anhalt, Anne-Marie Keding (CDU), die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg angewiesen, den Fall Oury Jalloh an sich zu ziehen und die bisherigen Ermittlungen zu überprüfen. »Dort liegen nun die Akten«, sagte Heinecke. »Wir haben Anfang Januar eine umfangreiche Beschwerde eingelegt. Wir haben bis heute weder eine Eingangsbestätigung noch eine andere Reaktion erhalten.« Die Generalstaatsanwaltschaft erklärte in einer Stellungnahme: »Die bearbeitenden Kollegen sind mit der Sichtung und Auswertung der umfangreichen Aktenstücke beschäftigt und betreiben auch eigene Nachforschungen.« Erst nach Abschluss der offiziellen Überprüfung können die beiden von der Landesregierung im April beauftragten Sonderermittler ihre Arbeit aufnehmen.

In anderen Bereichen scheint die Arbeit der Justiz schneller voranzukommen. Am Mittwoch steht ein Aktivist der Oury-Jalloh-Initiative in Dessau vor Gericht. Auf der jährlichen Gedenkdemonstration zum Todestag des Asylbewerbers im Januar 2016 soll er bei einer symbolischen Aktion mit leeren Feuerzeugen auf Polizisten geworfen haben. Die Staatsanwaltschaft Dessau wirft ihm versuchte schwere Körperverletzung vor. Unterstützer der Initiative beklagen schon länger Repression.

Vanessa Thompson vom Untersuchungskomitee betonte derweil die Aktualität der Fragen des Jalloh-Komplexes. Die Sprecherin verwies auf Amad Ahmad, einen kürzlich in der JVA Kleve verbrannten Syrer. »Genau wie bei Jalloh gab es auch hier die vorschnelle Annahme, dass es sich um einen Suizid gehandelt habe.« Man müsse dafür kämpfen, dass die Ermittlungen unter »demokratischer Kontrolle« und »in ernsthafter Weise« fortgesetzt werden. Thompson warnte: »Auch der Fall Ahmad zeigt, dass die vermeintlichen Garanten der Demokratie diese bedrohen können.«

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