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Fortschreiten oder nachlaufen

Der Mindestlohn ist zu niedrig, seine Konstruktion verhindert ein deutliches Plus

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Mindestlohn ist ein Beispiel für die Widersprüche progressiver Politik. So wichtig es war, dass endlich eine gesetzliche Lohnuntergrenze eingezogen wurde, so richtig waren und bleiben alle Rufe nach Verbesserung. Mal ging es um Ausnahmen, meist um den Betrag und nun rückt das Verfahren in den Mittelpunkt. Man könnte auch sagen: Fortschritt ist relativ, ob etwas weiterhin so genannt werden kann, hängt immer davon ab, ob der nächste Schritt gelingt. Und der nächste. Und so fortan.

»Ich finde übrigens, dass zwölf Euro Mindestlohn angemessen sind. Am Lohn sollten Unternehmen nicht sparen«, war unlängst wieder einmal Finanzminister Olaf Scholz zitiert worden. Die einen erinnerten die Sozialdemokraten daran, dass sie in der Regierung sind und also weniger reden, sondern handeln sollten. Von einem deutlich höheren Mindestlohn wollen dagegen Vertreter wirtschaftsliberaler Positionen etwa in der Union und in der Wissenschaft nicht viel wissen.

Soweit so üblich. Auch die Debattenlage hinsichtlich der Höhe hat sich nicht sonderlich verschoben. Ab 2019 liegt die Lohnuntergrenze bei 9,19 Euro brutto pro Stunde, ab 2020 bei 9,35 Euro. Kommt man damit über die Runden? Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung verweist auf eine Studie, laut der der Mindestlohn in vielen Großstädten wegen der Mietkosten nicht mehr die Lebenshaltungskosten deckt. Oft zitiert wird auch die Bundesregierung, laut der für eine Nettorente oberhalb des Grundsicherungsniveaus bei einem normalen Job über 45 Jahre hinweg derzeit »rechnerisch ein Stundenlohn von 12,63 Euro erforderlich« wäre. Gezeigt hat sich, dass der Mindestlohn nicht, wie vor seiner Einführung oft behauptet, Arbeitsplätze vernichtet. Im Gegenteil, eher wird auf den positiven Beitrag zur Binnennachfrage verwiesen. Das allein müsste eigentlich schon ausreichen, einen deutlichen Aufschlag auf den Mindestlohn zu begründen. Stattdessen gibt es weiter Löhne, bei denen der Staat einspringen muss: etwa durch Aufstocken, Transferleistung im Alter oder Wohngeld. Mindestens bis 2020.

Dass es nur in Cent-Schritten vorangeht, hat mit der Konstruktion der Mindestlohnkommission zu tun. Bisher legt das Gesetz fest, dass die festzusetzende Höhe »zu einem angemessenen Mindestschutz« beizutragen, »faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden« habe. Außerdem: »Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.«

Hierin steckt ein Problem. Und es wird dadurch größer, dass die Kommission diesen Passus in ihrer Geschäftsordnung noch verschärft hat. Die regelmäßige Anpassung des Mindestlohns wird »gemäß der Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes« vollzogen, eine Abweichung sei nur möglich, »wenn besondere, gravierende Umstände« vorliegen. Zudem ist dann auch noch eine Zweidrittelmehrheit in der Kommission nötig, deren stimmberechtigte Mitglieder die Gewerkschaften und die Kapitalseite stellen.

Schon früher ist darüber gestritten worden, ob das überhaupt dem Willen des Gesetzgebers entspricht, der ausdrücklich auf eine »Gesamtabwägung« pochte und die Mindestlohnkommission nicht als nachvollziehendes Notariat erdacht hat, das bloß noch durchschnittliche Tarifergebnisse umrechnet. Viele Juristen betonen aber auch die Autonomie der Kommission - und in der sitzen die Gewerkschaften mit drin. Der DGB-Vertreter in der Runde, Stefan Körzell, hat nun davor warnt, der Mindestlohn dürfe »keinesfalls zum Spielball politischer Mehrheitsentscheidungen werden«. Die Crux: Bleibt alles, wie es ist, und der Mindestlohn »läuft« nur der Tarifentwicklung »nach«, kommt man erst in Jahren in den Bereich von zwölf Euro, ein Betrag, der dann aufgrund der Preisentwicklung auch schon wieder viel zu gering sein wird.

Und das Verfahren ist nicht bloß eine bürokratische Frage, sondern hat eine wichtige gerechtigkeitspolitische Dimension. Darauf hat unlängst Günter Schmid hingewiesen, der emeritierte Direktor des Wissenschaftszentrums Berlin fordert unter anderem, »die demokratische Beteiligung bei der Festlegung des Mindestlohns zu erweitern«.

Schmid sieht es auch als sinnvoll an, das Parlament stärker in die Debatte einzubeziehen: »Nur so kann die ebenfalls im Mindestlohngesetz erwähnte Formel einer ›Gesamtabwägung‹ gewährleistet werden«, die über den Tellerrand der Tarifentwicklung blicken müsste. Die Festsetzung der Höhe des Mindestlohns in der Kommission dürfe nicht »zu einem bloßen rechnerischen Algorithmus verkommen«, es gebe auch »über die dominierenden Tarifparteien hinausgehende Interessen«. Doch wie kommen die zur Geltung? DGB-Mann Körzell hält »eine einmalige Niveauanpassung durch den Gesetzgeber« für denkbar. Das würde den Startfehler eines zu niedrig begonnenen Mindestlohnes korrigieren. Mehr aber nicht. Der DGB zieht hier auch eine rote Linie für die SPD, deren Bundesarbeitsminister Hubertus Heil angekündigt hat, ein neues Verfahren zur Festsetzung des Mindestlohns zu entwerfen. Die Anpassung soll weiter Sache der Tarifpartner bleiben.

Eine Novelle entspräche der Gesetzeslage, Paragraf 23 sieht eine Evaluation bis 2020 vor. Dann wird sich - nicht zuletzt bei den Verfahrensregeln - zeigen, ob beim Mindestlohn weiter Fortschritt möglich ist. Oder ob er nur »nachläuft«.

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