Dem »Monster« ins Gesicht sehen

Der Vatikan startet am Donnerstag eine sogenannte Missbrauchskonferenz

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: 4 Min.

Zuletzt haben sich Nonnen geäußert. Hunderte Ordensfrauen wurden in den vergangenen Jahrzehnten von Geistlichen missbraucht, mitunter entstanden dabei Kinder. So kann man es in »Women Church World«, dem Frauenmagazin des Vatikan, nachlesen. Dem Bericht zufolge waren und sind Geistliche aus allen kirchlichen Hierarchien an den Übergriffen beteiligt, viele haben die Schwangeren zu einer Abtreibung und zum absoluten Schweigen gezwungen. Als Papst Franziskus vor zwei Wochen die Vorkommnisse bestätigte, ging ein Aufschrei durch die klerikale Welt: Das nicht auch noch.

Die katholische Kirche wird seit Jahren durch Missbrauchsfälle erschüttert, in Schulen, Internaten, Kircheneinrichtungen überall auf der Welt gab und gibt es massenhafte Übergriffe, vor allem auf Jungen. Manche der Opfer waren Kinder im Alter von neun und zehn Jahren.

Mit dem aktuellen Bekenntnis des Papstes erlangt die katholische Missbrauchsdebatte Kirche einen Höhepunkt: Wie sicher (oder unsicher) dürfen sich Gläubige in der katholischen Kirche vor sexuellen und seelischen Übergriffen fühlen? Wie glaubhaft ist die Kirche noch, die vorgibt, ein Hort der Nächstenliebe und des Friedens zu sein? Für die Einrichtung mit einer ausgeprägten Sexual- und Reproduktionsmoral ist Abtreibung - nebenbei bemerkt - eine Todsünde.

Jetzt reagiert der Papst und ordnet eine viertägige sogenannte Missbrauchskonferenz an, die am Donnerstag im Vatikan startet und dem »Monster« Missbrauch ins Gesicht schauen soll. So jedenfalls formulierte es ein Vatikansprecher.

Bevor es überhaupt losgeht, hagelt es schon Kritik an dem Treffen, das - trotz einer eigenen Konferenz-Website - weitgehend hinter verschlossenen Türen stattfinden soll. Unter den 190 Teilnehmer*innen sind nur 10 Frauen, was angesichts der jüngsten Vorwürfe der Nonnen wie ein Schlag ins Gesicht der Frauen wirken muss. Manche Kleriker begründen die Entscheidung zur geringen weiblichen Teilnahme damit, dass die meisten Missbrauchsopfer Jungs und Männer sind. Weit über 80 Prozent sind »Jugendliche bis zu 18 Jahren«, räumt Kardinal Ludwig Müller ein. Müller war von 2002 bis 2012 Bischof von Regensburg, einer katholischen Hochburg und Hort massenhafter sexueller Übergriffe. Bei den Regensburger Domspatzen, dem aus Jungen und jungen Männern bestehenden Domchor, wurden seit 1945 mindestens 547 Domschüler missbrauch.

Kritisiert wird ebenso, dass sowohl der Wille zur Aufarbeitung des Missbrauchs als auch die Konferenz zu spät kommen. Unmittelbar nachdem die Vorfälle ans Licht gekommen waren, hätten Verantwortliche reagieren müssen, heißt es. Stattdessen wurde Jahrzehnte lang weiter geschwiegen, vertuscht, weggeredet. Auch in Deutschland. 2010 brachte der Jesuitenpater Klaus Mertes die Debatte über sexuellen Missbrauch in katholischen Einrichtungen in Gang, als er Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich machte. Die katholische Kirche zeigte sich erschüttert, gleichwohl dauerte es noch etliche Jahre, bis die Bischofskonferenz angemessen reagierte. Nach vier Jahren Forschung veröffentlichten Geistliche im Herbst die sogenannte MHG-Studie, die den massenhaften Missbrauch belegt.

Das Gutachten - 356 Seiten dick und benannt nach den Orten der beteiligten Forschungsstätten in Mannheim, Heidelberg, Gießen - offenbart einen Skandal unermesslichen Ausmaßes: 3677 Kinder und Jugendliche, meist Jungen, wurden in der Zeit von 1946 bis 2014 sexuell missbraucht. Die Opfer waren überwiegend jünger als 13 Jahre, manche sogar erst 10 Jahre alt. Die Beschuldigten: 1670 Priester, Diakone, Ordensangehörige. Bisherigen Erkenntnissen zufolge waren 4,4 Prozent aller Kleriker der deutschen Bistümer Täter, nicht wenige von ihnen pädophil oder homosexuell.

Aber nur etwa ein Drittel von ihnen wurde angezeigt, in der Regel von den Betroffenen, fast nie von Kirchenvertretern. Innerkirchliche Strafen gab es kaum, gegen zwei Drittel der Beschuldigten wurde nicht einmal ein Verfahren eingeleitet. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, gestand im Herbst ein, dass die Kirche lange weggeschaut hätte - »der Institution willen und des Schutzes von uns Bischöfen und Priestern willen«.

Dass es sich bei der katholischen Kirche insgesamt um ein »Männersystem« handelt, das ihnen Macht, Einfluss und Geld verleiht, darf getrost behauptet werden. Dass es sich um ein System handelt, das homosexuellen Männern einen Hort bietet, in dem sie ihre Sexualität ungehindert ausleben können, belegt jetzt das Buch »Sodoma« des französischen Journalisten Frédéric Martel. 80 Prozent der Kleriker im Vatikanstaat seien schwul, schreibt Martel. Im Vatikan bewegten sie sich in einer vertuschenden Atmosphäre, in der es leicht war, Kinder sexuell zu missbrauchen. Die Premiere des Buches ist öffentlichkeitswirksam gewählt: Es erscheint am Donnerstag.

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