Dorf am Ende

Befürworter und Gegner streiten erbittert um ein Mega-Logistikgebiet in Nordhessen

Der Heidkopftunnel an der Landesgrenze von Thüringen zu Niedersachsen weist derzeit schwere Schäden auf. Die Tragschicht unter der Fahrbahn ist kaputt. Und das nur 12 Jahre nach der Eröffnung. Wahrscheinlich wegen des Schwerlastverkehrs auf der A38, der Ost-Westverbindung südlich des Harzes. Es kann monatelang dauern, die Schäden zu beheben.

Sollte der Verkehr während der Sanierung über die Dörfer geleitet werden müssen, dann könnte er auch quer durch die Gemeinde Neu-Eichenberg im Nordosten Hessens verlaufen. Schon jetzt gibt es manchmal Autobahnsperrungen, dann schiebt sich eine Blechlawine durch die Landschaft. Glücklich darüber ist Jens Wilhelm (SPD), der Bürgermeister von Neu-Eichenberg, nicht.

Es ist aber ein Vorgeschmack auf das, was auf die Gemeinde zukommen könnte. Wenn dort nämlich auf einer Fläche von rund 81 Hektar eines der größten Logistikgebiete Deutschlands entsteht. Sechs riesige Blechhallen will der Immobilienentwickler Dietz auf den Acker stellen und an Online- und Versandhändler vermieten. Wie viel Lastverkehr anfällt, darüber gibt es nur Schätzungen. Markus Engelmann aus dem Dietz-Vorstand redet mit 900 Lkw-Fahrten pro Tag, rein rechnerisch sind das knapp zwei Lastwagen pro Minute. Kritiker befürchten jedoch ein weitaus höheres Verkehrsaufkommen. Der 1800-Einwohner-Gemeinde droht damit ein Verkehrsinfarkt.

Die Vorteile des Logistikgebiets liegen für Wilhelm aber trotzdem auf der Hand. Er setzt auf die Einnahmen, die der klammen Gemeinde winken - vor allem aus der Grund- und Gewerbesteuer. Wie hoch die sind, ist nur schwer vorherzusagen. Auch ein Gutachten der Kanzlei Strecker, Berger und Partner, das unlängst vorgestellt wurde, liefert nur vage Prognosen. Es können 40 000 Euro im Jahr sein, aber auch 579 000 Euro. Das hängt von vielen Unwägbarkeiten ab - ob die Nachfrage für solch ein Riesengebiet überhaupt vorhanden ist, wie viele Jobs geschaffen werden und wie viele Menschen sich wegen der Arbeit in der Gemeinde niederlassen. Für Wilhelm ist aber wichtig, »dass es insgesamt ein Plus geben wird - auch wenn viele Annahmen hypothetisch sind«.

Klar ist aber eines: Der Logistikpark würde die fünf Dörfer umfassende Gemeinde sehr verändern. Sie stünden fortan im Schatten der fast zwanzig Meter hohen und teilweise Hunderte Meter langen Hallen. Laut und unruhig wäre es. Die Wohnqualität würde abnehmen, Immobilien wohl an Wert verlieren.

»Neu-Dietzenberg nein danke« haben Gegner des Projekts mit großen, schwarzen Lettern an eine Brücke geschrieben. Vor einem Jahr hat sich eine Bürgerinitiative formiert, die nicht über »leistungsfähige« Ampelanlagen oder die Höhe der aufgeschütteten Erdwälle diskutieren will, sondern das Vorhaben generell ablehnt. Die Aktivisten kämpfen für den Acker, der dafür am Ortsrand von Hebenshausen weichen soll, weil er einer der fruchtbarsten weit und breit ist.

Lössböden sind gerade in Zeiten des Klimawandels wertvoll, weil sie auch in Dürrezeiten ertragreich sind. »Eine Überbauung würde die Bodenstruktur zerstören«, erklärt der Agrarwissenschaftler Stephan Peth von der Universität Kassel. »Selbst wenn die Hallen irgendwann zurückgebaut werden, dauerte es Jahrzehnte, bis sich der Boden erholt hätte.«

Konflikte wie jetzt in Nordhessen gibt es vielerorts - weil die Logistikbranche boomt und auf die Flächen drängt. Alleine die Dietz AG plant derzeit noch drei weitere Logistikparks: in Lich, Geiselwind und Philippsburg. Projekte in Schifferstadt, Hammersbach, Bochum, Biblis und Peine sind bereits im Bau oder umgesetzt. Alles Standorte in den westlichen Bundesländern, die über eine gute Straßenanbindung verfügen. Das Vorhaben in Neu-Eichenberg sticht dabei aber heraus, weil die Baufläche vier bis fünfmal so groß ist. Die Dietz AG will damit offensichtlich zu den Großen der Branche aufschließen.

Aber noch ist der Deal nicht in trockenen Tüchern. Der hessische Landtag hat zwar im Sommer für eine Abgabe der landeseigenen Flächen gestimmt, der Verkauf kann aber erst vollzogen werden, wenn auch die Gemeinde dem Bebauungsplan zustimmt. Macht sie das nicht, bleibt die Kommune auf den Planungskosten sitzen. Das schwächt natürlich ihre Verhandlungsposition. Nicht wenige in Neu-Eichenberg sagen, die Gemeinde habe sich dem Investor ausgeliefert.

Vor Ort haben sich SPD und CDU für das Logistikgebiet ausgesprochen. Eigentlich verfügen beide Parteien im Gemeindeparlament mit sieben und fünf Sitzen über eine komfortable Mehrheit. Aber sie haben jeweils einen Abweichler in ihren Reihen. Möglicherweise springen noch weitere Abgeordnete ab. Die Grünen als dritte Fraktion lehnen das Logistikgebiet ab, stellen aber nur drei Abgeordnete.

Allerdings scheinen die Stimmverhältnisse schon seit einigen Monaten nicht mehr repräsentativ zu sein. Die Ablehnung gegen das Mega-Projekt wächst nämlich. Im Dezember demonstrierten rund 900 Personen bei strömendem Regen gegen das Vorhaben und bildeten eine Menschenkette auf dem Acker, wo einmal die Hallen stehen sollen. Schüler versammelten sich im Rahmen von »Fridays for Future« vor der Gemeindeverwaltung, weil sie das Vorhaben für alles andere als zukunftsweisend halten. Gerade in Zeiten des Klimawandels müsse der Schwerlastverkehr und Flächenfraß verringert werden, meinen sie. Es finden Mahnwachen statt, und am Wochenende beginnen Sonntagsspaziergänge, ähnlich wie am Hambacher Forst.

Tief gespalten ist die Gemeinde derzeit. Wenn die Gegner auf die negativen Begleiterscheinungen des Vorhabens aufmerksam machen, winkt das Gros der Gemeindevertreter oft nur demonstrativ ab. Sie werden es aber sein, die darüber das letzte Wort haben. Diese Befugnis wirkt wie eine Bürde, die auf ihnen lastet. Das zeigt, wie sehr der kleinen Gemeinde das Projekt über den Kopf gewachsen ist. Einen Termin für die entscheidende Abstimmung gibt es noch nicht; erst muss die Gemeindeverwaltung die 452 schriftlichen Einwendungen gegen das Projekt im Rahmen des Beteiligungsverfahrens umfassend begutachten.

Eine Alternative zu dem Logistikgebiet ist für die Gegner des Projekts naheliegend. Ackerflächen sind rar, sagen sie. Die Flächen sollten weiterhin der Landwirtschaft zur Verfügung stehen. Das würde auch zur erklärten Absicht der schwarz-grünen Landesregierung passen, die den Ökolandbau in Hessen ausbauen will.

Doch es blieben die Planungskosten für das Logistikgebiet. 1,4 Millionen Euro sind für die Gemeinde viel Geld. Kurz vor der Landtagswahl im Oktober hat die Umweltministerin Priska Hinz (Grüne) Unterstützung der Landesregierung in Aussicht gestellt, falls die Gemeinde von dem Vorhaben Abstand nimmt. Aus umweltpolitischer Sicht sieht sie die Entwicklung des Logistikgebiets kritisch. Nun erneuerte eine Sprecherin des Umweltministeriums gegenüber dem »nd« das Angebot - bei einem Rückzieher der Gemeinde wolle auch das Land nach einer Lösung suchen, die für alle Beteiligten tragbar ist.

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