»Die Rechnungen sind unbezahlbar«

Die Ukraine ist das ärmste Land Europas, die Strom- und Wasserpreise steigen - gut für populistische Forderungen im Wahlkampf.

  • Denis Trubetskoy
  • Lesedauer: 4 Min.

In der Regel ist es die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die vor den ukrainischen Präsidentschaftswahlen am 31. März mit populistischen Themen rund um die soziale Lage im Land um Wähler wirbt. Besonders in der Provinz kommt das gut an, und dies macht sie zu einer der drei aussichtsreichen Kandidaten im aktuellen Wahlkampf. Sollte Timoschenko gewinnen, verspricht sie den Gaspreis zu halbieren. Diesen hat die aktuelle Regierung in schöner Regelmäßigkeit erhöht, zuletzt im November 2018 um 22 Prozent - eine Bedingung des Internationalen Währungsfonds (IWF) im Gegenzug für dessen Kredite.

Doch jetzt ist es nicht mehr nur Timoschenko, die auf populistische Forderungen setzt. Ein wichtiges Wahlkampfthema ist die Rentenpolitik, denn trotz konstant steigender Kosten für Strom, Kalt- und Warmwasser verharrt die Durchschnittsrente derzeit bei unter 100 Euro pro Monat. Dementsprechend stellen die Tarife ein großes Problem für die Rentner dar, obwohl sie zum Teil staatliche Unterstützung erhalten. Keine Überraschung also, dass der amtierende Präsident Petro Poroschenko kurz vor der Wahl die Renten indexiert und eine einmalige Zahlung von umgerechnet 90 Euro veranlasst hat. »Die Pensionäre sind unsere Priorität in der Sozialpolitik«, so Poroschenko. »Ich schließe nicht aus, dass wir die 13. Rente für diejenigen einführen, die eine Mindestrente bekommen.« Diese ist im Dezember um zwei auf etwa 50 Euro gestiegen.

»Dass sie uns vor den Wahlen etwas ausbezahlt haben, löst doch nicht unsere Probleme«, klagt die Kiewer Rentnerin Iryna. »Wir sind leider auf die Rente angewiesen, um zu überleben. Poroschenko würde ich niemals wählen.« Der Rentner Olexander, der im gleichen Wohnblock im Kiewer Bezirk Obolon lebt, hat eine andere Meinung: »Das Land befindet sich in einer schweren Situation. Die Zeiten des billigen russischen Gases sind vorbei, das Geld ist nicht so einfach zu finden«, meint er. »Poroschenko versucht das zumindest. Ob er das wegen der Wahl macht oder nicht, ist für mich zweitrangig.«

Wolodymyr arbeitet im staatlichen Rettungsdienst und bekommt rund 270 Euro pro Monat. Darüber hinaus versucht er, als Fahrer für den Onlinevermittler Uber noch ein wenig dazuzuverdienen. »Gott sei Dank habe ich zumindest eine eigene Wohnung und muss keine Miete bezahlen«, sagt er. »Ich musste aber in diesem Winter mehr als 100 Euro aufbringen, die Heizungsrechnungen sind für mich einfach unbezahlbar. Jeden Monat fürchte ich, nicht über die Runden zu kommen.« Damit ist Wolodymyr nicht alleine. Der aktuelle Mindestlohn beträgt umgerechnet 130 Euro, das Durchschnittsgehalt liegt zurzeit bei etwa 290 Euro. Hinzu kommt: Noch im Januar 2014 lag der Wechselkurs der ukrainischen Währung Hrywnja zum Euro bei 13:1, mittlerweile sind es 30:1. Davon haben vor allem IT-Fachkräfte profitiert, die ausländische Aufträge in einer Fremdwährung ausgezahlt bekommen, das Geld aber in der Ukraine ausgeben.

Die schlechte soziale Lage bewegt immer mehr Menschen dazu, zur Arbeitssuche ins Ausland zu gehen. Der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin bestätigte, dass im vergangenen Jahr jeden Monat rund 100 000 Menschen das Land verließen, um im Ausland zu arbeiten, vorwiegend in Polen, Ungarn oder Deutschland. »Um die Arbeitsmigration zu stoppen, müssten wir mindestens ein Durchschnittsgehalt von 500 Euro haben«, sagt Olexander Rewa, Minister für Sozialpolitik. In Polen verdienen die Ukrainer laut Rewa im Durchschnitt knapp 650 Euro monatlich - was auch nicht gerade üppig ist. Deshalb entscheiden sich immer mehr Menschen für Tschechien oder Deutschland, wo besser bezahlt wird.

»Für uns ist es die wichtigste Aufgabe, so viele Ukrainer wie möglich in die Ukraine zurückzuholen. Wir wollen, dass sie ihr Geld bei uns verdienen und ausgeben«, sagt der Schauspieler und aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat Wolodymyr Selenskyj. In seiner Fernsehrolle als Präsident Wassyl Goloborodko in der Komödie »Diener des Volkes« machte er sich als großer Gegner des vom IWF diktierten Sparprogramms einen Namen - und hat neue Kredite in einer sehr deutlichen und weniger druckreifen Sprache abgelehnt.

In Wirklichkeit sieht Selenskyj die Sache etwas gelassener: »Bei einem Treffen mit den IWF-Vertretern habe ich sie gefragt, ob es für sie von grundsätzlicher Bedeutung ist, dass die Ukrainer wegen Hungers sterben, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Nein, meinten sie natürlich. Sie wollen nur, dass unser Staat auch seine Rechnungen bezahlt. Woher das Geld kommt, ist dann zweitrangig.«

Selenskyj macht allerdings keine Vorschläge, woher das Geld für die Rückzahlung der Kredite aus seiner Sicht stammen sollte. Im März hat eine technische Inspektion des IWF die Ukraine besucht, es wurden aber keine abschließenden Erklärungen abgegeben. Im Mai wird voraussichtlich über den nächsten Kredit entschieden. Wie der mögliche Präsident Selenskyj darauf reagieren wird, bleibt eine spannende Frage.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.