In radikaler Opposition gegen die Kunst

In Schwerin wird eine der bedeutendsten Sammlungen Marcel Duchamps wissenschaftlich erschlossen

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor etwa 20 Jahren erwarb das Museum Schwerin eine der weltweit umfassendsten Sammlungen des französisch-amerikanischen Malers und Objektkünstlers Marcel Duchamp, die es seither gründlich ausgewertet hat. An Nachwuchswissenschaftler wurden Forschungsaufträge erteilt und Duchamps wegweisender Beitrag zur Verbindung von Kunst und Leben herausgearbeitet. Als Quintessenz dieser Bemühungen wird jetzt die Schweriner Duchamp-Sammlung, wissenschaftlich aufbereitet, mit vielen Leihgaben versehen, vorgestellt, wobei vor allem Aspekte der visionären Kunst Duchamps herausgearbeitet werden. Zudem wird nach zehn Jahren intensiver Arbeit des Duchamp-Forschungszentrums Schwerin Ende April mit dem Symposium »Marcel Duchamp: Die Erfindung der Gegenwart« Bilanz der geleisteten Forschungsarbeit gezogen.

Duchamps kubistisch-futuristisches Gemälde »Akt, eine Treppe herabsteigend« (1912), das sich aus einer Vielzahl von Bewegungsmomenten zusammensetzt, bereitete den Weg für das »Große Glas«, das den Titel »Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt« trägt. An dem Werk arbeitete Duchamp acht Jahre lang, bevor er 1923 die Arbeit daran aufgab. »Großes Glas« ist eine metaphysische Maschine, sie will uns aus der realen Maschinenwelt in die Parallelwelt der Allegorie versetzen. Im oberen Teil zieht sich die nackte Braut unaufhörlich aus; im unteren drehen die bedauernswerten kleinen Junggesellen, die nur als leere Jacken und Uniformen dargestellt sind, genauso unaufhörlich die Mühle und signalisieren dem Mädchen über ihnen ihre Frustration. Die Junggesellen benötigen eine Liebesmaschine als Ersatzbefriedigung, ohne selbst noch direkt mit der Braut zusammenkommen zu können. Erst in der oberen Sphäre setzt das »Reich der Indeterminiertheit« ein, »in dem die Kausalität verschwunden ist«, sagt Duchamp. Man kann dieses Bild aber auch als Emanzipationsaufruf sehen, als Symbol der Revolte gegen die Familie und ihre Autorität. Sein steriles und kostenloses Funktionieren hat dieses Bild zum Schlüsselwerk der Avantgarde werden lassen. Mit dem gedanklichen Hintergrund des zerbrochenen Glases hat sich Duchamp dann mit der »Grünen Schachtel« (1934) auseinandergesetzt, die eine Auswahl aus seinen handschriftlichen Notizen, Zetteln, Fotografien und Zeichnungen enthält. Immer wieder hat er sein Werk in Miniaturausführungen in Schachteln und Koffern verpackt, um sich vom Kunstmarkt abzugrenzen und sich als Kurator seiner eigenen Kunst zu begreifen.

Täuschung oder das unmöglich Scheinende ist in der Kunst Duchamps gang und gäbe. Die bekannteste Satire Duchamps ist »L.H.O.O.Q.« (1919), die mit Bart versehene Mona Lisa - eine Geste, die heute stellvertretend für jede verulkende, kulturelle Respektlosigkeit steht. Spricht man die Buchstaben französisch aus, dann ergibt sich »Elle a chaud au cul«, was übersetzt »Ihr ist heiß am Hintern« heißen könnte. Dahinter steht der Angriff auf eine weitere verborgene Ebene der Angst, denn wer dem berühmtesten fetischartig verehrten Porträt einer Frau, das je gemalt wurde, männliche Attribute verleiht, verspottet Leonardos Genialität wie auch dessen Homoerotik auf mehr oder weniger subtile Weise. 1965 entfernte Duchamp auf der Reproduktion der Mona Lisa wieder das Bärtchen und stellte sich selbst als weibliches Alter-Ego, als Rrose Sélavy, dar. Er ist als Frau kostümiert, bleibt aber als Mann erkennbar. Das widersprüchliche Verhältnis von Mann und Frau hat Duchamp auch in anderen Werken immer wieder thematisiert.

Mit seinem undurchsichtigen Fenster »Fresh Widow« (1920) machte er sich auch über das perspektivische Sehen der bisherigen illusionistischen Malerei lustig. Man schaut nicht mehr in ein Bild wie durch ein Fenster hindurch, sondern wird auf ein inneres Sehen verwiesen.

Duchamp machte noch andere Versuche, die Kunst zu entmystifizieren; beachtenswert sind dabei seine Ready-mades - gewöhnliche Dinge wie eine Schneeschippe, ein Fahrrad oder Flaschenständer, die er als Objekte ohne ästhetisches Interesse ausstellte, aber in ihrem neuen Kontext der »Kunst« zuordnete. Das aggressivste Objekt aus dieser Reihe war »Fontaine« (1917), ein umgedrehtes Urinal aus Porzellan, welches er irreführend mit »R. Mutt« unterzeichnete. Solche Dinge des Gebrauchs, denen er Namensbezeichnungen gab, die vielleicht mit Ausnahme des Pissoirs keine Beziehungen zu dem Gegenstand hatten, waren ein Manifest: Jedes Objekt kann durch Signierung und öffentliche Präsentation im Ausstellungsraum zu einem Kunstwerk erhoben werden. »Die Stolperfalle« (1917) ist eine umfunktionierte Garderobenleiste, die am Boden fest angebracht war und nun die Aufmerksamkeit des Betrachters erfordert, um nicht über die am Boden befestigte Kunst zu stolpern.

Duchamp unterhöhlte den Anspruch des Kunstwerks auf Einmaligkeit. Jede Replik eines Ready-mades übermittelt die gleiche Botschaft wie das Original. Darin steckt eine Vorwegnahme der in den 1950er Jahren zum Durchbruch gelangten Gattung des multiplizierten Kunstwerks. Und Duchamps Ready-made, der ironische Akt der Auswahl eines alltäglichen Gegenstandes, ist hier gleichbedeutend mit Schöpfung. Er sei, so der Künstler, »mit einem Auge fast eine Stunde lang aus der Nähe zu betrachten«, bevor sich die Initialzündung einstelle. Aus dem Schweigen sollte die Veränderung kommen und die Veränderung Befreiung und die Beendigung des Nichts bringen.

Fließen und Bewegung, Transparenz, Transformation und Zufall wurden für Duchamp zu ästhetischen Kategorien. Die Werkgruppe der »Rotoreliefs« (1939) verwandelt rotierende Scheiben mit Hilfe eines Plattenspielers aus der Zwei- in eine plastisch wirkende Dreidimensionalität. Duchamp wurde zum Anreger für Op-Art und kinetische Kunst. Sein Protest gegen das Unvermögen der Kunst, die Gesellschaft zu ändern, war so radikal, dass er voll die Konsequenz daraus zog, als er sah, wie man diese Protestakte nun auch zu sammeln begann. Duchamp wird in der Ausstellung als Erfinder der konzeptuellen und auf Wahrnehmungsphänomenen beruhenden Kunst erlebbar, als Inspirator der Fluxus-Bewegung, die seit den 1960er Jahren die Aktionskunst oder das Happening als neue Ausdrucksform hervorbrachte. Das zeigen Werke von John Cage und Marcel Broodthaers sowie Arbeiten aus der Fluxus-Sammlung der Familie Kelter.

Diese Ausstellung beschert dem Betrachter mannigfaltige Entdeckungen, Heureka-Erlebnisse, Impulse im Denkprozess, aber auch die eine oder andere Irritation und Missverständlichkeit.

»Marcel Duchamp: Das Unmögliche sehen«, bis 26. Mai, Staatliches Museum Schwerin, Alter Garten 3, Schwerin.

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