Halbnackt und hilflos

Dämonen, Gnome, Schemen und Monster: »Hieronymus B.« an der Oper Halle

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein knorriger Baum mit totem Geäst gleich ragenden Armen ist der Hort, aus dessen Wurzelwerk mit Geheul und Gejaul, halbnackt und hilflos, die Menschen kriechen. Der Teufel lenkt, feuert sie zu rüden Zweikämpfen an, entfesselt sie zu einem Inferno aus Gewalt und Rücksichtslosigkeit. Die Bilder des Hieronymus Bosch zählen zu den rätselhaftesten der Frührenaissance. Wenig ist bekannt über den niederländischen Meister aus s‘-Hertogenbosch, geboren um 1450, gestorben 1516, der keinerlei handschriftliche Zeugnisse hinterlassen hat. Von den rund 20 gesicherten Originalwerken beschäftigt besonders ein Triptychon bis heute: »Der Garten der Lüste«, wohl vor 1500 gemalt und in den Besitz von Spaniens Philipp II. übergegangen - ob aus Wertschätzung oder nur als Kriegsbeute. Was der streng katholische Monarch, der durch Schillers »Don Carlos« zu literarhistorischer Bedeutung kam, beim Betrachten der Bosch'schen Bilderwelt mitsamt all der Dämonen, Gnomen, Schemen und Monster empfunden haben mag, ist nicht überliefert.

So viel Ungewissheit reizt Choreografen zu Deutung und Weiterführung: in Kanada Marie Chouinard, in Frankreich Blanca Li. Die Amsterdamerin Nanine Linning entwickelte 2015 als Tanzchefin am Theater Heidelberg einen Kommentar mit ganz eigener zeitgenössischer Bewegungssprache zu Hieronymus Bosch und übertrug diesen zum Ballett Rossa an der Oper Halle. Drei Teile umfasst »Hieronymus B.«, zweigeteilt wird anfangs auch die Zuschauerschaft: Eine Gruppe sieht aus dem Saal zu, die andere direkt von der Bühne, wie der Künstler und seine Zeit, von Gutenbergs Buchdruck bis zu Dürers »Adam und Eva«-Darstellung, als düstere Videoprojektion vorüberziehen - unterfüttert von Michiel Jansens adagiohaft zerdehnter Auftragskomposition.

Vor der Leinwand und auf einem Steg tauchen sie dann auf, die gespenstischen Wesen aus Boschs Ikonografie: das Mädchen mit Trichterkopf, die maulfletschende Froschchimäre, das Flugwesen mit Posaunenschnabel. Dann tauschen die Zusehpulks ihre Orte. Auf der Bühne nehmen Installationen Bezug auf Boschs Höllenkosmos im »Garten der Lüste«: die in einer Harfe Gekreuzigte, die Teufelin, die kopfunter in einem Kettensegment Hängende, die gehörnte Schwangere, der kreischend fröhliche Bootsmann, zwei monströse Würfelspieler, der aufs Rad Geflochtene, die Frau im pfeildurchbohrten Riesenohr, der Reiter auf dem Fass, dessen Ende ein Hintern mit Pfeil im Anus ist - Folterdarstellung oder erotische Anspielung? Was für die Menschen seiner Zeit christlich belehrend gewesen sein mag, ist uns heute eher Gruselspektakel. Das tastende Sich-Finden von Adam und Eva unterbricht immer wieder eine maulsperrende Silbergestalt mit Sense. Die Tänzer ergehen sich mit ungeschützten Körpern in einem Exzess aus Stürzen, Sprüngen und selbstaggressiven Ausbrüchen. Gegen die schroffen Schraffuren der Streicher kommen die klagenden Barockarien kaum an. Nach dem Aufbäumen naht Rettung: Der gewaltige Erzengel aus Boschs »Johannes auf Patmos« ermöglicht es den geschundenen Menschen, die Leiter in eine bessere Welt zu erklimmen. Auf ihr verharren sie dann, derweil auf einem überdimensionalen Granatapfel ein Paar die Liebe entdeckt, wie in jener Pusteblume im »Garten der Lüste«. Ein überwältigendes Schlussbild!

Nächste Aufführungen am 5. und 20. April, Oper Halle

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