Der Schlüssel sind die Barrios

Venezuelas Oppositionsführer Guaidó versteht das eigene Land offenbar nicht.

  • Tobias Lambert
  • Lesedauer: 4 Min.

Es war eine bizarre Woche im venezolanischen Machtkampf. Als sich Oppositionsführer Juan Guaidó am frühen Dienstagmorgen per Twitter an die Öffentlichkeit wandte, erschien es für ganz kurze Zeit so, als stehe der Sturz von Präsident Nicolás Maduro dieses Mal tatsächlich unmittelbar bevor. In einem Video zeigte sich Guaidó gemeinsam mit seinem eigentlich unter Hausarrest stehenden Mentor Leopoldo López und einer Reihe von Soldaten. Er behauptete, maßgebliche Teile des Militärs hinter sich zu haben und erweckte den Eindruck, bereits eine Luftwaffenbasis im Osten der venezolanischen Hauptstadt Caracas zu kontrollieren.

Doch dauerte es nicht lange, bis der Bluff aufflog. In Wahrheit waren es nur wenige Dutzend einfache Soldaten, die sich auf der Stadtautobahn nahe der Militärbasis postiert hatten. Guaidós Aufrufe an den Rest des Militärs verhallten ungehört - und auch seine Gefolgschaft strömte nur spärlich auf die Straße, wo es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit Sicherheitskräften kam.

Noch ist ziemlich unklar, was tatsächlich hinter dem neuerlichen Umsturzversuch steckt, der improvisiert und dilettantisch durchgeführt wirkte. Dachte Guaidó wirklich, dass die Militärführung mitziehen würde oder die USA hinter den Kulissen gar bereits Maduros Abgang ausgehandelt hatten? Fest steht, dass er nach 100 Tagen als selbst ernannter Interimspräsident unbedingt die Aussicht auf einen Regierungswechsel aufrechterhalten muss, damit sich die rechte Opposition nicht wieder intern zerstreitet.

Es geht nicht nur ums Militär

Immer wieder betont der Oppositionsführer, dass nur noch das Militär als der letzte Baustein fehle, um »die Usurpation« des Präsidentenamtes durch Nicolás Maduro zu beenden. Natürlich kann es sein, dass Teile des Militärs früher oder später tatsächlich die Seiten wechseln, zumal sich die ohnehin schon schwierige wirtschaftliche Lage durch die US-Sanktionen rasch zu einer humanitären Krise auswachsen könnte. Doch abgesehen davon, dass niemand weiß, ob in dem Fall nicht unterschiedliche Militäreinheiten aufeinander losgingen, würde ein auf diese Art vollzogener Regierungswechsel den politischen Konflikt in Venezuela nicht befrieden können.

Die Apologeten des »Regime Change« vernachlässigen konsequent einen ganz entscheidenden Faktor: dass nämlich der Chavismus als politisch-kulturelle Identifikation weit über die Regierung hinaus reicht. Nicht nur kann Maduro noch immer auf eine loyale Anhängerschaft von schätzungsweise 15 bis 30 Prozent der Bevölkerung setzen. Es gibt zudem einen erheblichen Teil der Bevölkerung, der sich als chavistisch versteht und die rechte Opposition vehement ablehnt, ohne aber offen die Regierung zu unterstützen.

Würde diese chavistische Basis von den Hügeln hinabsteigen, um den Rücktritt Maduros zu fordern, wäre der venezolanische Präsident wohl schneller am Ende als Guaidó auf Twitter das Militär zum Überlaufen aufrufen könnte. Aus liberaldemokratischer Rationalität heraus mag es nicht nachvollziehbar sein, warum es gerade in jenen Bevölkerungsteilen, die am stärksten unter der Wirtschaftskrise leiden, immer noch Rückhalt für die Regierung gibt.

Wenn dies überhaupt jemand thematisiert, wird meist versucht, das Phänomen mit Klientelismus, sozialem Druck oder der Angst vor Repression zu erklären. Dies alles gibt es zwar durchaus. Doch wer ernsthaft denkt, mehrere Millionen Menschen aus den »Barrios« - den informell erbauten Armenvierteln Venezuelas - ließen sich so einfach vereinnahmen, ist mit diesen wohl noch nie ernsthaft in Kontakt gekommen.

Chavéz heißt noch immer Würde

Das Bewusstsein darüber, dass Hugo Chávez der erste Politiker in der Geschichte des Landes war, der ihre Sorgen Ernst genommen hat und ihre Sprache sprach, ist bei vielen tief verwurzelt. Die Figur Chávez eröffnete ihnen zumindest vorübergehend den Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, subventionierten Lebensmitteln, Elektrogeräten und politischen Partizipationsmöglichkeiten. Noch entscheidender aber ist das Gefühl von Würde und Selbstermächtigung, das in den Barrios vor Chavez quasi unbekannt gewesen war. Die Politiker der rechten Opposition, die - abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Guaidó selbst - überwiegend der kleinen weißen Oberschicht des Landes entstammen, werden dies wohl niemals verstehen können.

Die seit einigen Jahren verheerend verlaufende Wirtschaftskrise und die konsequente Verschlechterung der Lebensbedingungen sorgt zwar mittlerweile auch in den chavistischen Hochburgen für Unmut und vereinzelte Proteste gegen die Regierung. Doch noch größer als die Enttäuschung über den Verlauf, den der von Chávez angeführte bolivarianische Prozess mittlerweile genommen hat, ist dort die Ablehnung der rechten Opposition und der Einmischung aus den USA. Auch wenn Washington bis heute jede Beteiligung am Putsch gegen Chávez im April 2002 abstreitet, ruft die offene Unterstützung der USA für Guaidó zuverlässig Erinnerungen an den durch Massenproteste gestoppten Staatsstreich wach.

Dass die Opposition allein auf das Militär blickt, dürfte ihr noch auf die Füße fallen. So wenig, wie Maduro jetzt einfach weitermachen und die Krise aussitzen kann, würde die Opposition nach einem von den USA gestützten Umsturz - wie »friedlich« auch immer - ohne Repression gegen den chavistischen Teil der Bevölkerung regieren können. Um Gewalt zu verhindern, ist daher ein breiter gesellschaftlicher Dialog zur Überwindung der Krise notwendig.

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