Neue Züge auf alten Gleisen

Verbändebündnis fordert Reaktivierung stillgelegter Bahnverbindungen

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und der Lobbyverband »Allianz pro Schiene« fordern eine bundesweite Offensive für die Reaktivierung von stillgelegten Bahnstrecken. Nur so sei das selbst gesteckte Ziel der Bundesregierung zu erreichen, den Anteil der Schiene am Personenverkehr bis 2030 zu verdoppeln und die Schienengüterverkehrsleistung um 60 Prozent zu steigern, erklärte der Vorstandschef der »Allianz pro Schiene«, Dirk Flege, am Montag in Berlin.

Unterdessen zogen 700 Eisenbahner mittags vom Bundesfinanz- zum Bundesverkehrsministerium. Die im DGB organisierte Bahngewerkschaft EVG, die zu der Aktion aufgerufen hatte, fordert pro Jahr zehn Milliarden Euro zusätzlich für die Schiene, um sie für die Herausforderungen der Zukunft fit zu machen. Mit diesen Investitionen würden die Fehler der Vergangenheit wie die massive Vernachlässigung der Infrastruktur ausgeglichen, so die EVG.

Der Schienenverkehr leidet noch heute unter dem massiven Schrumpfungsprozess, der bereits in den 1960er Jahren in West und Ost begann und nach der Bahnreform 1994 so richtig Fahrt aufnahm. Seitdem wurden im Personenverkehr Strecken mit einer Gesamtlänge von 3600 Kilometern stillgelegt, beim Güterverkehr waren es sogar 6100 Kilometer. Das entspricht rund 14 Prozent des gesamten Schienennetzes. Besonders viel stillgelegt wurde in den neuen Bundesländern. Vergleichsweise bescheiden nehmen sich dagegen bereits vollzogene Streckenreaktivierungen aus: 827 Kilometer für den Personen- und 359 Kilometer für den Güterverkehr. Eine Vorreiterrolle nehmen dabei Niedersachsen, Hessen und Baden-Württemberg ein. Um die großen umwelt- und infrastrukturpolitischen Herausforderungen zu bewältigen, »müssen wir den Rückzug der Schiene aus der Fläche stoppen und an geeigneten Stellen rückgängig machen«, forderte Flege.

In der Pflicht sieht die »Allianz pro Schiene«, zu der neben Verkehrs- und Bahnindustrieunternehmen auch die Bahngewerkschaften EVG und GDL sowie Umwelt- und Verkehrsverbände gehören, dabei vor allen den Bund. Der müsse als Alleinbesitzer der Deutschen Bahn dafür sorgen, dass »der Renditedruck aus Netzbetrieb und Netzausbau herausgenommen wird«. Die Bahn-Tochter DB Netz bewerte einzelne Strecken immer noch nach ausschließlich betriebswirtschaftlichen Kriterien. Priorität müsse ein »volkswirtschaftliches Gesamtkonzept für den Verkehr haben«, so Flege. In vielen Ländern und Kommunen habe längst ein Umdenken begonnen, da die Potenziale der Straße für die Bewältigung des wachsenden Güter- und Pendlerverkehrs erkennbar an ihre Grenzen stießen. Zudem könne mehr Schienenverkehr dabei helfen, dass der Verkehr seinen notwenigen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele leiste. So kann die Schiene laut Berechnungen der EVG 20 Prozent der im Verkehrsbereich geforderten CO2-Einsparungen leisten.

VDV-Präsident Ingo Wortmann betonte die großen Vorteile einer flächendeckenden Reaktivierung von Verbindungen. Anders als beim Neubau könne man auf vorhandene Trassen und teilweise auch noch vorhandene Infrastruktur zurückgreifen, wodurch Flächenverbrauch und Kosten reduziert sowie Planungsvorläufe beschleunigt werden könnten.

Der Verband hat eine detaillierte Liste erarbeitet, die insgesamt 3072 Kilometer auf 186 Strecken umfasst. Das reicht von kleinen Stichstrecken über Lückenschlüsse in noch betriebenen Verbindungen bis hin zur Reaktivierung von Städteverbindungen mit Strecken von 40 bis 50 Kilometern. Umweltpolitische Belange sollen im Personenverkehr vor allem durch Elektrifizierung beziehungsweise durch den bereits erprobten Einsatz von Brennstoffzellen statt Dieselmotoren berücksichtigt werden. Bei kürzeren Strecken bietet sich ferner der Batteriebetrieb an.

Die Liste beinhaltet keinen konkreten Zeitplan für die Realisierung, unterteilt die 186 Projekte aber je nach Dringlichkeit in drei Kategorien und skizziert einen ungefähren Zeitrahmen für die jeweilige Fertigstellung nach Planungsbeginn. So sei zu klären, ob für die Reaktivierung von Strecken neue Bebauungspläne aufgestellt werden müssten, was einen erheblichen Zeitaufwand beinhalte, so Wortmann. Dazu kämen erfahrungsgemäß oftmals schwierige »Abstimmungsprozesse« zwischen Bahn, Bund, Ländern und Kommunen. Man habe, so Flege, aber die Erfahrung gemacht, dass sich bei gutem Willen stets Lösungen finden lassen.

Flege und Wortmann kündigten an, zügig Gespräche mit Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) und den Verkehrspolitikern der Parteien aufzunehmen. Denn ohne ein »klares Bekenntnis des Bundes zu einer umfassenden Reaktivierungsstrategie wird es nicht gehen«.

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