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Und wieder eine Stelle frei bei der SPD

Nach der EU-Wahl wollten die Sozialdemokraten über ihr Profil reden und verlieren nun doch nur ihre Vorsitzende

Irgendwann zwischen letztem Dienstag und diesem Sonntag muss Andrea Nahles zu der Einschätzung gekommen sein, dass sie eine formale Abstimmung über ihre Zukunft an der Spitze der SPD nicht mehr braucht. Diese Woche wollte sie sich eigentlich vorzeitig zur Wiederwahl als Chefin der SPD-Bundestagsfraktion stellen. Diese Entscheidung hatte sie zwei Tage nach den desaströsen Wahlergebnissen in Europa und in Bremen selbst angesetzt, um ihre Kritiker zum Offenbarungseid zu zwingen.

Doch am Sonntagmorgen kurz vor zehn Uhr ließ Nahles über die Pressestelle ihrer Partei mitteilten, dass sie als SPD-Vorsitzende und Fraktionschefin der Sozialdemokraten zurücktreten werde. »Ob ich die nötige Unterstützung habe, wurde in den letzten Wochen wiederholt öffentlich in Zweifel gezogen«, erklärt sie in ihrem Rücktrittsbrief an die Genossen noch einmal. »Deshalb wollte ich Klarheit.« Nun scheint Nahles auch ohne Showdown zu der Erkenntnis gekommen zu sein, dass ihr die Rückendeckung fehlt. Diese Klarheit habe sie »in dieser Woche bekommen«, schreibt sie an ihre Partei. Die hat damit seit der ersten Großen Koalition mit Angela Merkel insgesamt acht Vorsitzende verschlissen.

Den Fraktionsvorsitz hatte die frühere Arbeitsministerin und ehemalige Generalsekretärin Nahles nach dem schlechten Abschneiden der Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 2017 übernommen. Im Jahr darauf wurde sie die erste Frau an der Spitze der SPD. Was sie nun, ein reichliches Jahr später, so sicher macht, dass sie nicht mehr gewünscht ist, ist vorerst offen. »Die Diskussion in der Fraktion und die vielen Rückmeldungen aus der Partei« hätten ihr gezeigt, dass der zur Ausübung ihrer Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist, erklärt sie dazu. Diverse Medien wussten in den vergangenen Tagen zu berichten, dass Nahles in der Fraktion keine Mehrheit bekommen könnte. Gerüchte machten die Runde, dass sie bei Probeabstimmungen in den drei relevanten Strömungsnetzwerken der Fraktion durchgefallen sein soll. Deren Sprecher dementierten jedoch, dass es solche Probeabstimmungen überhaupt gegeben hat.

Wissen konnte sie, dass ihre Ankündigung, die Neuwahl des Fraktionsvorsitzes vorzuziehen, für Unmut gesorgt hat - aus ganz verschiedenen Motiven. Gerade erst hatte sich der Parteivorstand darauf verständigt, sich diesmal nicht wie üblich gleich wieder in Personaldebatten aufzureiben, sondern zunächst über die programmatische, strategische Aufstellung zu reden. Das folgt der Einsicht, dass in den vergangenen 15 Jahren bei der SPD schon viele Köpfe gerollt sind, nur besser geht es der Partei dadurch nicht. Einige SPD-Politiker wie Parteivize Ralf Stegner warfen Nahles nun vor, im »Alleingang« alle Beratungen und Festlegungen der Gremien zu konterkarieren. Andere fühlten sich wohl vor allem überrumpelt, so schnell einen Gegenkandidaten aufbauen zu müssen. Denn eigentlich sollte der Fraktionsvorsitz erst im September neu gewählt werden. Bei einer Sonderfraktionssitzung am Mittwoch soll jedenfalls deutlich geworden sein, dass sie für diesen Schritt wenig Rückhalt hatte.

Auf der anderen Seite meldeten sich aber auch Nahles-Kritiker zu Wort, die diese Abstimmung begrüßten. Seit langem sticheln einzelne SPD-Politiker gegen sie, vor allem aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Schon vor den Wahlen kursierten Gerüchte, sie solle aus dem Amt gedrängt werden. Auch Sigmar Gabriel, der sich nach der Bundestagswahl bei den Ministerposten übergangen fühlte, war immer für eine Breitseite gut.

Offiziell reklamierte zwar niemand Fraktion und/oder Partei für sich. Doch im Gespräch waren dennoch einige Namen. So zeigte Ex-SPD-Chef Martin Schulz Ambitionen, die Führung der SPD-Bundestagsfraktion zu übernehmen. Eine Kandidatur gegen Nahles am Dienstag hatte er jedoch in einem Schreiben »aus persönlichen Gründen« ausgeschlossen. Neben Schulz waren in den vergangenen Tagen auch der Chef der NRW-Landesgruppe im Bundestag, Achim Post, und der Sprecher der Parlamentarischen Linken in der Fraktion, Matthias Miersch, als Nahles-Nachfolger gehandelt worden. Nach der Rücktrittsankündigung machten viele weitere Namen die Runde: Finanzminister Olaf Scholz genauso wie der Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil, oder die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Wer von ihnen derzeit auf breiteren Rückhalt zählen könnte, ist allerdings offen. Zumal der Partei selbst noch immer unklar ist, welches Profil überhaupt gesucht wird.

Ebenso unklar ist im Grunde, was Nahles persönlich vorgeworfen wird. Das Siechtum der Sozialdemokratie hat lange vor ihr begonnen, weshalb man ihr allenfalls anlasten kann, dass sie es nicht gestoppt hat. Eine schlechte Figur gab sie in der Affäre um den früheren Geheimdienstchef Hans-Georg Maaßen ab. Da ließ sie sich auf eine Absprache mit CDU und CSU ein, den Mann auf einen anderen Posten zu befördern, statt ihn einfach abzusetzen. Dafür erntete das maßgeblich von ihr erarbeitete neue Sozialstaatskonzept für die SPD, das von ihrer Partei mit verursachte Fehlentwicklungen repariert, aber zugleich Ideen für die digitale Arbeitswelt entwickelt, viel Zustimmung. Noch im Februar wurde es vom Parteivorstand beschlossen. Da war der Rückhalt offenbar noch da.

Enttäuscht hat die ehemalige Juso-Vorsitzende und scharfe Agenda-Kritikerin schon früher vor allem Hoffnungen der Linken, mit ihr an den Schalthebeln der Macht könnte die SPD ein linkssozialdemokratisches Profil gewinnen. Doch Nahles gehörte zuletzt zu jenen, die die SPD gegen große innerparteiliche Widerstände erneut in eine Große Koalition mit der Union führten. Da hilft auch nicht, dass sie in dieser Legislatur immerhin mit dafür sorgte, dass die SPD eigenständiger auftritt.

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Nun will sich Nahles, die seit 1998 im Bundestag sitzt, komplett aus der Politik zurückziehen. Sie wolle nicht nur als Partei- und Fraktionsvorsitzende zurücktreten, sondern auch zeitnah ihr Bundestagsmandat niederlegen, bestätigte eine Sprecherin. Sie hoffe, schreibt Nahles am Ende ihres Briefes an die Genossen, dass es den Sozialdemokraten gelinge, »Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken«. Für ihre Person hat sie diese Hoffnung in der letzten Woche offenbar aufgegeben. Vielleicht findet sie beides in ihrem Heimatdorf Weiler, wo Nahles mit ihrer Tochter auf dem Bauernhof ihrer Urgroßeltern lebt. Dort gibt es einen sozialdemokratischen Ortsverein. Den hatte Nahles einst selbst gegründet, nachdem sie als 18-Jährige in die SPD eingetreten war.

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