Senat lässt die BVG hängen

Landesunternehmen soll 102-Millionen-Euro-Tarifabschluss selbst finanzieren

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

102 Millionen Euro zusätzlich müssen die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) dieses Jahr für ihr Personal ausgeben. Grund ist der Tarifabschluss, der nach vielen mageren Jahren Fahrern und anderen Beschäftigten endlich deutliche Einkommenssteigerungen bescherte. Der Betrag ist nicht von Pappe, denn 2018 hatte die BVG inklusive Tochtergesellschaften rund 670 Millionen Euro für ihr Personal ausgegeben, und einen Überschuss von 13,2 Millionen Euro erwirtschaftet.

Und wie es aussieht, lässt der Berliner Senat sein eigenes Unternehmen mit der Finanzierung hängen. Denn auf der Gewährträgerversammlung, die bis in den späten Dienstagnachmittag getagt hatte, haben nach nd-Informationen die Vertreter der Senatsverwaltungen für Finanzen, Wirtschaft und Verkehr das Thema nicht einmal angesprochen. Dabei habe der Senat bereits in der frühen Phase der Tarifverhandlungen «signalisiert, dass dieser sich mit rund 50 Millionen Euro an dem Tarifabschluss beteiligen wird», erklärt Frank Wolf, Landesleiter Berlin-Brandenburg der Gewerkschaft ver.di.

«Tarifverträge von Unternehmen sind zunächst von den Unternehmen zu finanzieren», sagt Eva Henkel, Sprecherin von Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) auf nd-Anfrage. «Soweit sich eine geeignete Mischung aus Eigenbeitrag des Unternehmens, Tariferhöhung und zusätzlicher Unterstützung aus dem Landeshaushalt zukünftig ergibt, sind Beschlüsse zum Doppelhaushalt 2020/21 durch die Haushaltsverhandlungen im Senat und später im Abgeordnetenhaus zu fassen», so Henkel weiter.

«Sollte der Tarifabschluss tatsächlich ausschließlich durch die BVG finanziert werden müssen, führt das zwangsläufig zu weiteren Sparprogrammen und zu mehr Arbeitsbelastung», glaubt Wolf. «Das würde sich auch massiv auf den Öffentlichen Personennahverkehr in Berlin auswirken», warnt der Gewerkschaftsvertreter.

«Die BVG darf nicht erneut in die Verschuldungsfalle getrieben werden», sagt Jens Wieseke, Sprecher des Fahrgastverbands IGEB, auf nd-Anfrage. «Es ist Aufgabe der Politik unter dem Regierenden Bürgermeister, für eine auskömmliche Finanzierung zu sorgen», so Wieseke weiter.

Generell muss sich die rot-rot-grüne Koalition entscheiden, wie sie den Nahverkehr in der Hauptstadt künftig finanzieren will. Bisher wurden vor allem Tarifsenkungen beschlossen, so geschehen beim Sozialticket. Schüler sollen ab dem kommenden Schuljahr im August generell gratis fahren dürfen. Zum gleichen Zeitpunkt wird auch der Preis des Azubitickets auf 365 Euro im Jahr gesenkt, außerdem soll es generell in ganz Berlin und Brandenburg gelten - eine Ersparnis um bis zu 75 Prozent. Auch das Firmenticket wird deutlich günstiger.

«Die Einnahmen sollen durch mehr Fahrgäste gesteigert werden», erklärt Harald Wolf, Verkehrsexperte der Linksfraktion den Ansatz. Angesichts der Kapazitätsprobleme dürften zumindest im Berufsverkehr die Spielräume dafür eher gering sein. «Die Stammkunden werden entlastet, Gelegenheitsfahrer gegebenenfalls höher belastet», sagt Wolf über die Tarifzukunft. Einzelfahrscheine, Tageskarten und möglicherweise auch Wochenkarten könnten also teurer werden, wahrscheinlich schon ab nächstem Jahr. Nach den Brandenburger Wahlen im September könnten Vertreter beider Bundesländer im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) entsprechendes beschließen. «Wir haben von Berliner Seite bisher Tariferhöhungen verhindert, die Brandenburger Betriebe drängeln schon sehr», so der Verkehrsexperte.

«Was wir brauchen, sind einfache und verständliche Tarife. Was wir nicht brauchen, ist ein kostenloser oder fast kostenloser Öffentlicher Personennahverkehr», sagte VBB-Chefin Susanne Henckel bei einer Veranstaltung am vergangenen Mittwoch.

In Wien habe die Senkung des Preises des Jahrestickets für Jedermann 2013 zwar eine Verdoppelung der Abonnentenzahlen auf 800 000 gebracht«, erläuterte Friedemann Brockmeyer vom Beratungsunternehmen Civity, das die Tarifreform wissenschaftlich begleitet hatte. »Aber die Zuwächse bei den Fahrgastzahlen blieben unter dem allgemeinen Bevölkerungszuwachs.« Und die wegfallenden Einnahmen aus teureren Einzelfahrkarten muss nun die Stadt Wien mit 42 Millionen Euro jährlich kompensieren. »Wenn ich das rational aus einer Verkehrswende betrachte: 42 Millionen Euro wären vier Kilometer Straßenbahn-Neubaustrecke. Man hätte von dem Geld inzwischen also 25 Kilometer Straßenbahn bauen können«, rechnet er vor. Die Frage sei eher, wie sehr man solche Tarifmaßnahmen brauche, um andere Vorhaben zu flankieren. »Wenn sich die Politik traut, den ganzen S-Bahnring zur Parkraumzone zu machen, vielleicht sogar bis Steglitz, dann kann eine Reduktion des Tarifs eine flankierende Maßnahme sein«, sagt Brockmeyer.

Als sogenannte dritte Säule der Finanzierung des Nahverkehrs neben Ticketeinnahmen und Subventionen lässt die Senatsverkehrsverwaltung nach nd-Informationen derzeit rechtlich prüfen, ob nicht Parkplätze oder Unternehmen für ihre Beschäftigten mit Abgaben belegt werden können. Das wird für Diskussionen sorgen.

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