Eine Bewegung vor Gericht

Am Montag wurde in der Türkei erneut ein Prozess wegen der Gezi-Proteste von 2013 eröffnet

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

Während einige Istanbuler am Montag noch den Sieg des Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu bei den Bürgermeisterwahlen feierten, wurde 70 Kilometer von der türkischen Metropole entfernt, im Hochsicherheitsgefängnis Silivri, der sogenannte Gezi-Prozess eröffnet. Den 16 Angeklagten wird vorgeworfen, vor sechs Jahren die Gezi-Park-Bewegung organisiert zu haben: Mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen. Zu ihnen gehören der Journalist Can Dündar, der Kulturmäzen Osman Kavala und die Architektin Mücella Yapıcı. Letztere war 2013 in dem Netzwerk »Taksim Solidarity« aktiv und stand deswegen 2015 schon einmal vor Gericht, sie wurde damals freigesprochen.

Nun fordert die Staatsanwaltschaft für Yapıcı und die anderen 15 Angeklagten verschärfte lebenslange Haft, also mindestens 30 Jahre hinter Gittern. Zwei der Angeklagten, darunter Dündar, leben im Exil. Zwei weitere sitzen bereits im Gefängnis: der Soziologe Yiğit Aksakoğlu seit November 2018 und Osman Kavala bereits seit Oktober 2017. Die 657-seitige Anklageschrift wurde indes erst im Februar dieses Jahres vorgelegt und am 4. März zugelassen.

Vor sechs Jahren waren in der Türkei Millionen Menschen wochenlang auf die Straßen gegangen, nicht nur in Istanbul oder Ankara, sondern im gesamten Land. Die Bewegung war konfessionsübergreifend und multiethnisch. Sie brachte Jung und Alt zusammen. Menschen, die sich zuvor mit Argwohn begegnet waren, standen plötzlich Seite an Seite, zunächst gegen den Umbau eines kleinen Parks am Istanbuler Taksim-Platz, dann für eine Demokratisierung des Landes. Die Polizei ging gewalttätig gegen die Demonstrierenden vor: Es gab Tote und mehr als 8000 Verletzte.

Weil damals so viele Milieus und Bewegungen zusammenkamen, fürchtet die AKP-Regierung bis heute eine Neuauflage des Protestes. Sie behauptet, Gezi sei ein von »ausländischen Mächten« gesteuerter Umsturzversuch gewesen, mit dem die »Einheit« der Türkei habe untergraben werden sollen. Schon während des Gezi-Sommers hatte Recep Tayyip Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, diese Verschwörungstheorie in öffentlichen Statements verbreitet. Längst ist sie die offizielle Erzählung der AKP und ihrer Presse.

Besonders Osman Kavala werden dabei die jahrelangen internationalen Kooperationen seiner Stiftung Anadolu Kültür, etwa mit dem US-Amerikanischen Milliardär und Philanthropen George Soros oder dem deutschen Goethe-Institut, vorgehalten. Er soll laut Anklage die Gezi-Bewegung finanziert haben. Das bestreitet der 61-Jährige vehement. Er erklärte in einer Botschaft aus dem Gefängnis, es sei ausgeschlossen, dass hinter Gezi ein »Mastermind«, eine Dachorganisation oder ein Financier, ob aus dem In- oder Ausland, gestanden habe.

Marie Lucas von Amnesty International Deutschland sagte nach Veröffentlichung der Anklageschrift im März, die türkischen Behörden beabsichtigten, einen »demokratisch legitimen Protest als Versuch darzustellen, die verfassungsgemäße Ordnung und die Regierung der Republik Türkei zu stürzen«. Diese Behauptung sei »absurd« und die Strafforderung »irrwitzig«, so Lucas. Der Kritik der Menschenrechtsorganisation schlossen sich in den vergangenen Tagen zahlreiche Institutionen - etwa die Deutsche Journalisten-Union in ver.di, die Akademie der Künste oder der Börsenverein des Deutschen Buchhandels - und auch deutsche Regierungsvertreter an.

Der Sommer 2013 markierte den Beginn von Erdoğans großer Angst vor einem Machtverlust, mithilfe des nun eröffneten Prozesses in Silivri sollte die damalige Bewegung von der - nicht mehr unabhängigen - Justiz ein für alle mal als illegitim abgeurteilt werden. So zumindest war es vom Staatspräsidenten wohl angedacht. Ob nach der herben AKP-Wahlschlappe in Istanbul Erdoğan nun erst Recht ein hartes Urteil im Gezi-Prozess erwartet oder Milde walten lässt, ist noch nicht abzusehen.

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