Ewige Frage: Warum nur?

»Sonnenfinsternis«, Arthur Koestlers bitterer Klassiker über den Stalinismus, im deutschsprachigen Original

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer? Arthur Koestler korrigiert: Der Terror kommunistischer Machtwahrung erwuchs just aus einer hypernervös-wachen Vernunft. Wenn der Mensch jenes Ungewisse leugnet, das sein Bewusstsein mitbestimmt und das ihn also vorsichtig machen sollte im Streben nach Welt- und Wahrheitsbesitz, dann verkehrt sich Vernunft in Verfolgungswahn. Dieser Wahn hörte auf den Namen Partei und deklassierte das »ozeanische Gefühl für etwas, das uns übersteigt« (Koestler), brandmarkte dieses Empfinden als konterrevolutionär, als Verrat am Klassenkampf.

»Sonnenfinsternis« heißt der bedeutendste Roman Koestlers. Erstmals 1940 erschienen, ist er ein moderner Klassiker, neben Solschenizyns großem »Archipel Gulag« die wohl erschütterndste Abrechnung mit dem opferreichen Großexperiment Kommunismus. Der Roman - bislang existierten nur Rückübersetzungen Koestlers aus dem Englischen - wurde vergangenes Jahr erstmalig vom kleinen Elsinor-Verlag im deutschen Original vorgelegt. Ein sensationeller Fund! Der Germanist Matthias Weßel hatte das auch vom Autor verloren geglaubte Manuskript in der Züricher Zentralbibliothek entdeckt.

Koestler erzählt nicht die Geschichte jener fortdauernden feindlichen Umzingelung, die den Kommunismus von außen zerstörte, er erzählt die Geschichte innerer Auflösung. Geschildert wird der Passionsweg des Revolutionärs Rubaschow in der Sowjetunion in den 1930er Jahren, der Zeit des stalinschen Terrors. Auch Rubaschow wird verhaftet und gerät in einen grauenhaften Strudel. Nachdem er die absurden Vorwürfe zunächst bestreitet, sind es dann die eigenen Überzeugungen von der Kaderdiktatur, die den Bolschewiken im Schauprozess zum Verräter an sich selbst machen. Denn da auch für ihn die historische Mission der Partei über jedem Leben steht, bezichtigt er sich, die Ermordung von »Nummer eins« betrieben zu haben. Anstatt schweigend zu sterben, wie es ihm ein Kassiber empfiehlt, belastet er sich - um der Revolution noch im Tode einen Dienst zu erweisen.

Das erzählt Koestler grausam unterkühlt, geradezu pathetisch unpathetisch. Mitleidlos. Nunmehr, im Original, noch schockierender: ein gedrosseltes, ganz in Lakonie gegossenes Hineinversetzen. Als gebe er den Apologeten der Exekutionen ihren eisig glühenden Text geradezu vor. Das steigert die Entlarvungskraft - als wäre der Roman nicht das Zeugnis eines Entsetzens, sondern eines tiefen Verstehens. Dialogisch meisterhaft und bedrängend wie Dostojewskis »Großinquisitor«. Ein böses Räderwerk wie Brechts »Maßnahme«. Alles steht für die Verfinsterung des Denkens im Augenblick, da eine bewusst auf den Rationalismus gegründete Bewegung die Macht antrat. Ursprünglich sollte der Roman »Circulus vitiosus« heißen: Dieser Teufelskreis - das ist das Rotieren und der Rumor eines Klassenbewusstseins, das »alles zu Ende denken muss«.

Der Roman war die erste literarische Auflehnung gegen jenes geistige, ethische Desaster, das alles Diktatorische und Totalitäre der leninistischen Staatsform mit dem Zynismus relativierte, diese Diktatur sei doch immerhin »eine Diktatur der Kommunisten, also jener Menschen, die am reinsten - Menschen sind« (Maurice Merleau-Ponty). Sage niemand: erledigt! Dieses Denken hat Erben, avantgardistische Härte wächst nach und sät unverwandt weiter: Führergläubigkeit, panische Beschwörung von Einheit und Geschlossenheit, Geißelung unbequemer Meinungen, Kampf gegen die Freiheit des Geistes, wo sie der eigenen Sache nicht nützt.

Dieses elende, mahnende Säkulum: ein Beben der Kontinente, zwei Weltkriege, ein Morden von Millionen, ein Überschnappen der Ideologien, ein Wallen der Menschheitsträumer und ein Wüten der Menschenschlächter, beides verheerend ineinander verschlungen; ein Jahrhundert der Befreiung, die fesselte, und des Gefesseltseins, das nach Freiheit schrie - am Ende war Geschichte nur wieder das entgeisternde Sturzfeld; niemals und niemandem gelang das Hochplateau einer geschichtlichen Erfüllung.

Stets war der Parteikommunismus (im Gegensatz etwa zur Grundidee der Sozialdemokratie) missionarisch, er beharrte darauf, dass seine Zukunftsentwürfe unbedingt eintreten. Diese Beharrung machte ihn so erzieherisch, so groß, so würdig - und so furchtbar, so unerbittlich. Wer Koestler liest und auf die Heilsamkeit von Irritation setzt, der begreift, erfühlt den Scheideweg: kalter Utopist oder mitfühlender Mensch zu sein. Gewiss, wer ausreichend abstrahieren kann, der wird sich immer wieder einreihen und glauben, dass es geschichtliche Grundgesetze und Avantgardismus gibt. Aber in der Geschichte sind Planung und Programmatik illusionär, es gibt trotz aller Sozialanalysen und Polittheorien letztlich »nur« unwägbare Energiefelder, Konfliktpunkte, Entladung, neue Optionen, erneute Entscheidungen für neue Konfliktpunkte. Alle wirkliche Aufklärung ist Konditionierung für diese Wahrheit - wider jeden einengenden Glaubenssatz.

Koestlers Leben beglaubigt seine Literatur. Er wird als jüdischer Kaufmannssohn in Budapest geboren. Geht als Siedler nach Palästina. Schlägt sich durch. Ist zu stolz, um als Gescheiterter nach Europa zurückzukehren. Wird Ullsteins Korrespondent in Jerusalem. Opfert diese Karriere aber seinem Beitritt in die KPD, der er von 1931 bis 1937 angehören wird. Er ist der einzige Journalist, der mit dem Luftschiff »Graf Zeppelin« an den Nordpol fliegt. Er will Traktorist in der Sowjetunion werden, was ihm die Partei ausredet - wenigstens reist er, ein Jahr lang, durchs Arbeiterparadies. Arbeitet für Willi Münzenbergs Presse-Konzern in Paris. Fährt mit illegalem Rechercheauftrag ins Spanien des Bürgerkriegs, soll die deutsche Militärhilfe für Franco enthüllen, wird von Madrids Faschisten zum Tode verurteilt. Die Folter der wiederholten Scheinerschießung. Flucht nach England. Aus dem Kommunisten wird zwischenzeitlich ein Fremdenlegionär, nach dem Krieg lebt er vor allem in London. Wo er sich, schwer parkinsonkrank, 1983 gemeinsam mit seiner Frau Cynthia das Leben nimmt. Ein Schlafmittel im geliebten Whisky - Sterben mit der Würde eines alten Römers. Welch ein Abenteuer, welch ein Schillern.

Er wollte »von der trivialen zur tragischen Ebene« wechseln. In welchem Menschen schlummert dieser Traum nicht? In geradezu eisigem Feuer der Selbstanklage, mit apokalyptischem Temperament hat er in »Sonnenfinsternis« seine Warnungen formuliert: Wer sich in einer Ideologie auflöst, und sei es die hoffnungsvollste, der arbeitet einer seelischen Selbstaufgabe zu. Koestler hat sich leidenschaftlich geirrt und kehrte mit Leidenschaft um - obwohl er seine kommunistischen Jahre auch später noch als die »besten des Lebens« bezeichnen wird.

»Sonnenfinsternis« - ein Buch von der Wucht einer griechischen Tragödie. Der Roman schied in Paris die Geister, etwa Sartre von Camus - kurioserweise hatte die KP Frankreichs großen Anteil am Erfolg des Buches, denn sie kaufte fast die gesamte erste Auflage und ließ sie vernichten. Ernst Bloch sprach von einer »Literaturgattung des Verrats«. Auch dies gehört zur Geschichte linker Intellektueller im 20. Jahrhundert: So freiwillig Mutige, Kämpferische waren zum Teil auch Menschen, die sich freiwillig mit Blindheit schlugen - Koestler aber gehörte zu denen, die das Renegatentum in die Charakterkunst hoben.

Bleibende Worte im Roman: »Unsere Prinzipien waren alle richtig, aber unsere Resultate waren alle falsch. Unser Wollen war hart und rein, die Menschen sollten uns lieben. Aber sie hassen uns. Wir brachten die Wahrheit, und sie klang in unserem Mund wie die Lüge. Wir bringen die Freiheit, und sie sieht in unseren Hände wie die Peitsche aus. Wir künden die wunderbare Zukunft, und unsere Verkündigung klingt wie fades Gestotter und rohes Gebell ... Warum nur?«

Arthur Koestler: Sonnenfinsternis. Roman. Mit einem Vorwort von Michael Scammell und einem Nachwort von Matthias Weßel. Elsinor Verlag Cosfeld 256 S., geb., 28 €.

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