Auch in Hessen und Hamburg wird enteignet

Grundstücksbesitzer und sogar Motorradfahrer verlieren ihr Eigentum

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.

Unlängst förderte die Antwort des hessischen Wirtschaftsministers Tarek Al-Wazir (Grüne) auf eine kleine Anfrage der SPD-Fraktion zu Tage, dass in den vergangenen Jahren hessenweit fast im Monatsrhythmus die Enteignung von Grundstücksbesitzern durch die Staatsgewalt eingeleitet wurde. Aus der schriftlichen Antwort des Ministers ergab sich nach Angaben des SPD-Landtagsabgeordneten Marius Weiß, dass zwischen 2010 und 2018 allein für den Bau von Autobahnen oder Bundesstraßen insgesamt 22 Enteignungsverfahren gestartet wurden. Nach Durchsicht aller Auflistungen zählte der Parlamentarier insgesamt 83 Enteignungsverfahren seit 2010 sowie 24 Verfahren, die bis zur Stunde noch anhängig seien. Diese Bilanz sei »beachtlich« und bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass die hessische CDU Enteignungen strikt ablehne und in dem Zusammenhang jüngst vor »Verdammnis, Not und Elend« gewarnt habe.

Enteignungen, die laut Grundgesetz zum Wohle der Allgemeinheit und laut hessischer Landesverfassung bei Missbrauch wirtschaftlicher Macht möglich sind, werden in Hessen von den drei Regierungspräsidien Darmstadt, Gießen und Kassel in die Wege geleitet. »Die Enteignung ist eine Form des staatlichen Zugriffs auf Grundstücke oder auf Rechte an den Grundstücken. Eine Enteignung ist nur zulässig, wenn die Grundstücke zur Realisierung eines Vorhabens zwingend benötigt werden«, heißt es in einer amtlichen Information der Landesregierung. »Das Vorhaben muss dem Wohl der Allgemeinheit dienen (zum Beispiel Straßenbau).«

Die aus Hessen stammende Bundesjustizministerium Christine Lambrecht (SPD) hatte kürzlich unter Verweis auf das Grundgesetz eine Enteignung privater Wohnungsbaugesellschaften als »Ultima Ratio - das letzte Mittel« bezeichnet, um Menschen mit geringem oder Durchschnittseinkommen Wohnraum zu garantieren. So weit will Minister Al-Wazir nicht gehen. Er schloss sich lediglich dem Vorschlag des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer (Grüne) an, Eigentümern von unbebauten Grundstücken in letzter Konsequenz mit Enteignung zu drohen.

Dass Enteignungen durch staatliche Behörden nicht nur gegen Grundstücksbesitzer vollstreckt werden können, zeigte vor wenigen Wochen ein Gerichtsurteil in der Hansestadt Hamburg. Dort wurde einem Motorradfahrer sein Fahrzeug hochoffiziell und entschädigungslos weggenommen. Wie eine Sprecherin des Hanseatischen Oberlandesgerichts auf nd-Anfrage bestätigte, war der angeklagte Kradfahrer mit einer Geschwindigkeit von 226 statt der zulässigen 100 Kilometer pro Stunde über die Autobahn A7 gerast und hatte eine geschlossene Ortschaft mit 129 statt maximal 50 km/h durchfahren. Dies brachte ihm nicht nur einen befristeten Führerscheinentzug und eine Geldstrafe von 2600 Euro ein. Das Gericht verfügte die Enteignung des Verkehrssünders. Das 160 PS starke Fahrzeug mit einen Verkaufspreis von rund 15 000 Euro wurde von der Behörde eingezogen und für die Versteigerung freigegeben. Der bisherige Halter hatte gegen ein Urteil in erster Instanz zunächst Einspruch eingelegt, diesen aber später wieder zurückgezogen.

Die Enteignung stützt sich auf einen 2017 ergänzten Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch (StGB). So werden in § 315d »verbotene Kraftfahrzeugrennen« auf öffentlichen Straßen als »gemeingefährliche Straftaten« aufgeführt. Für Personen, die solche Rennen organisieren, an ihnen teilnehmen oder auch darüber hinaus mit einer höchstmöglichen Geschwindigkeit sich »grob verkehrswidrig und rücksichtslos« fortbewegen und dabei noch Leib, Leben oder Eigentum anderer Personen gefährden, war schon bisher eine mehrjährige Freiheitsstrafe vorgesehen. Der 2017 in Kraft getretene § 315f ermöglicht nun explizit, dass bei einer solchen Straftat eingesetzte Fahrzeuge eingezogen werden können. Die Verkündung im Bundesgesetzblatt im September 2017 trägt die Unterschrift des Bundespräsidenten, der Kanzlerin und der damaligen Minister Maas (Justiz) und Dobrindt (Verkehr). Die Möglichkeit eines gezielten staatlichen Eingriffs in das Privateigentum ist auch in §74 StGB vorgesehen, der den Titel »Einziehung von Tatprodukten, Tatmitteln und Tatobjekten bei Tätern und Teilnehmern« trägt. Demnach können Gegenstände, die durch eine vorsätzliche Straftat hervorgebracht, zu ihrer Begehung oder Vorbereitung eingesetzt wurden oder sich auf eine Straftat beziehen, per Enteignung den Tätern weggenommen werden.

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