Steinmeiers Israel-Besuch: Absolution statt Verantwortung

Frank-Walter Steinmeier reist nach Israel – und trifft einen Premierminister, gegen den der Internationale Strafgerichtshof ermittelt

  • Hanno Hauenstein
  • Lesedauer: 5 Min.
2008 erklärte Angela Merkel, Israels Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsräson. Hier zu sehen: Ihre Teilnahme an einer Gedenkzeremonie in der in der Gedenkhalle des Holocaust-Museums Yad Vashem in Jerusalem am 4. Oktober 2018.
2008 erklärte Angela Merkel, Israels Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsräson. Hier zu sehen: Ihre Teilnahme an einer Gedenkzeremonie in der in der Gedenkhalle des Holocaust-Museums Yad Vashem in Jerusalem am 4. Oktober 2018.

Am 12. Mai empfängt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den israelischen Staatspräsidenten Isaac Herzog in Berlin. Der Anlass: 60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Tags darauf reisen beide gemeinsam nach Israel, wo Steinmeier auch Regierungschef Benjamin Netanjahu treffen wird – jenen Mann, gegen den der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, einen Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beantragt hat. Die Bundesregierung sieht sich im Jubiläumsjahr »vereint im Engagement für gemeinsame Werte« – so eine Mitteilung des Auswärtigen Amts.

Die symbolische Wucht dieses Besuchs ist offenkundig. Unter Netanjahus Führung eskalierte Israels Krieg in Gaza zu einem Angriff, den Militärs und Regierungsmitglieder mit dem Ziel der Vertreibung und Auslöschung palästinensischen Lebens verknüpfen. Das Ergebnis ist kaum noch zu leugnen: Was im Gazastreifen geschieht, erfüllt die Kriterien eines Völkermords, wie ihn der Jurist und Holocaust-Überlebende Raphael Lemkin definierte. Diese Einschätzung teilen heute auch zahlreiche Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch.

Steinmeiers Besuch wirkt vor diesem Hintergrund wie eine Absolution – ein Handschlag über den Gräbern Zehntausender. Zugleich normalisiert er die Tatsache, dass Israel mit der Blockade von Hilfsgütern jetzt Hunger als Kriegswaffe einsetzt. Der Besuch ist ein Signal: Deutschland stellt sich nicht nur an die Seite Israels, sondern an die Seite eines international gesuchten Kriegsverbrechers – und einer Regierung, unter deren Führung sich allen Anzeichen nach ein Völkermord vollzieht. Diese symbolische Nähe verleiht Netanjahus Kurs Legitimität. Für viele Palästinenser*innen und kritische Beobachter*innen ist das eine moralische Bankrotterklärung – und für autoritäre Regime von Ankara über Moskau bis nach Washington ist es ein deutliches Zeichen: Systematische Gewalt kann durchaus folgenlos bleiben, solange eben die Allianzen stimmen.

Der Besuch ist ein Signal: Deutschland stellt sich nicht nur an die Seite Israels, sondern an die Seite eines international gesuchten Kriegsverbrechers.

Seit Angela Merkel 2008 in der Knesset erklärte, Israels Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsräson, wurde dieser Satz zum außenpolitischen Dogma – und zum Leitmotiv eines Teils der deutschen Linken, deren bedingungslose Solidarität mit Israel bis heute nachwirkt. Aber was bedeutet Staatsräson, wenn Israel ein von ihm besetztes Gebiet in Trümmer legt, Zivilist*innen, Rettungskräfte und Journalist*innen gezielt tötet und humanitäre Hilfe blockiert? Angesichts von Steinmeiers Besuch wirkt die Antwort schmerzhaft einfach: Die deutsche Staatsräson hat sich von jeglichem moralischen Anspruch entkoppelt.

Sie dient nicht mehr – diente womöglich nie – der kritischen Vergegenwärtigung deutscher Verantwortung, wie sie aus der Shoah erwächst. Im Gegenteil: Staatsräson unterläuft heute Erinnerung. Der Politikwissenschaftler Daniel Marwecki zeigt in seinem Buch »Absolution?«, dass die deutsch-israelischen Beziehungen von Beginn an kaum etwas mit Aufarbeitung zu tun hatten. Es ging um außenpolitisches Kalkül: Die junge Bundesrepublik suchte einen Weg in die westliche Staatengemeinschaft – nicht aus Verantwortungsbewusstsein, sondern zur Rehabilitierung ihres Ansehens nach dem Holocaust. Israel wiederum, damals noch nicht unter dem Schutzschirm der USA, war auf Unterstützung beim Staatsaufbau angewiesen. Ein nüchterner Deal: Absolution gegen Anerkennung. Erst später wurde daraus das vermeintlich moralische Fundament deutscher Außenpolitik – ein Fundament, das sich längst von ethischen Ansprüchen gelöst hat.

Wer heute im Namen historischer Verantwortung zu den Kriegsverbrechen in Gaza schweigt – oder sie wie Steinmeier nun demonstrativ normalisiert –, während dort Zehntausende Kinder von israelischen Bomben unter Trümmern begraben werden, macht aus Erinnerung ein Instrument des Wegsehens. Die Berufung auf die Shoah wird zur hohlen Geste, wenn sie vor dem Grauen der Gegenwart versagt.

Wer heute im Namen historischer Verantwortung zu den Kriegsverbrechen in Gaza schweigt, macht aus Erinnerung ein Instrument des Wegsehens.

Dass Deutschland als Täterland ein anderes Verhältnis zu Israel pflegt als etwa Frankreich oder die Ukraine, ist naheliegend. Besondere diplomatische Beziehungen lassen sich historisch begründen. Doch Deutschland macht sich heute mitschuldig – durch rhetorische Rückendeckung, durch Waffenexporte, durch die wachsende Bereitschaft, Kritik an Israel im Innern zum Lackmustest politischer Loyalität und zur Schablone für Ausgrenzung zu machen.

Selbst aus der eigenen Logik heraus hat sich die deutsche Politik hiermit längst in eine Sackgasse manövriert. Während das transatlantische Bündnis unter Trump weiter erodiert, untergräbt das moralische Versagen der Bundesregierung im Umgang mit Gaza ihre Glaubwürdigkeit. Wer Menschenrechte und Völkerrecht derart selektiv verteidigt, verliert an Autorität. Die viel beschworene »regelbasierte Ordnung« entwertet sich, wenn der Maßstab so offen doppelt angelegt wird.

Wer nun hofft, dass Steinmeier in Jerusalem kritische Worte findet, dürfte enttäuscht werden. Theoretisch könnte der Bundespräsident seine Reise zumindest nutzen, um nicht nur Israel, sondern auch das besetzte Palästina zu besuchen. Doch selbst ein solcher Besuch im Westjordanland ist nicht vorgesehen – obwohl sich die Lage dort durch Siedlergewalt und militärische Repression durch die israelische Armee in den vergangenen Monaten dramatisch verschärft hat.

Es braucht eine deutsche Nahost-Politik, die sich nicht länger hinter symbolischen Maximen verschanzt, sondern hinschaut, benennt – im Zweifel auch widerspricht.

Im Norden des Westjordanlands führten Angriffe der israelischen Armee auf Städte wie Jenin und Tulkarem zur Vertreibung von über 40 000 Menschen – der größten Zwangsvertreibung in der Region seit Jahrzehnten. All das scheint den deutschen Bundespräsidenten nicht zu interessieren – zumindest nicht genug, um es mit eigenen Augen sehen zu wollen. Und das, obwohl rechtsextreme Minister wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gwir offen auf eine De-jure-Annexion des Westjordanlands drängen – ein Schritt, der die Zweistaatenlösung endgültig begraben würde.

Es braucht einen Kurswechsel. Eine deutsche Nahost-Politik, die sich nicht länger hinter symbolischen Maximen verschanzt, sondern hinschaut, benennt, im Zweifel auch widerspricht – und sich an universelle Prinzipien bindet, nicht an strategische Loyalitäten. Solange das ausbleibt, bleibt die deutsche Solidarität mit Israel keine Lehre aus der Geschichte – sondern ihre Verzerrung.

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