Wer zu spät kommt

Eine Erinnerung an einen berühmten Gorbatschow-Satz von vor 30 Jahren.

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein kleiner Schritt vorwärts? Der Dichter Heiner Müller sagte, hin zum wahren Sozialismus sei das zu kurz. Michail Gorbatschow hatte mit »Glasnost« und »Perestroika« einen großen Schritt vorwärts eingeleitet - der aber war tödlich für das System. Doch die Zeit war reif dafür. Reife zeigt die faulen Stellen an.

Es ist an einen welthistorischen Satz zu erinnern - am 6. Oktober 1989 der DDR-Führung ins Stammbuch geschrieben. Als der KPdSU-Chef in der Berliner Gedenkstätte Neue Wache Unter den Linden einen Kranz für die Opfer des Faschismus niederlegte, ging er auf Kameras und Mikrofone zu und sagte: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« So die Übersetzung, die in die Geschichtsbücher einging. Der Wortlaut: »Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.«

Der letzte Generalsekretär der sowjetischen Kommunisten, der Bauernsohn aus Priwolnoje in der Region Stawropol, hat nicht den Sozialismus abgeschafft, wohl aber die Idee, das sei einer. Viele Menschen dachten, er arbeite für einen Anfang. Er dachte es wohl auch. Aber er arbeitete an der Schlussszene. Denn eine Diktatur kann man nicht reformieren, man kann sie nur abschaffen.

Sowjetunion. Der Haushalt des Staates war geheim. Selbst die Minister kannten ihn nicht, sollten aber ordentlich wirtschaften, ohne jeden Einblick in Einnahmen und Ausgaben. Einmal sprach man auf höchster Ebene über die geringe Produktivität, die mangelnde Disziplin und den schlechten Zustand der Wirtschaft überhaupt. Der Lösungsvorschlag des Politbüros: Miliz und KGB ausschwärmen lassen und all jene Menschen, die sich zur regulären Arbeitszeit in Läden, Saunen und Parks aufhalten, festnehmen lassen. Als Landwirtschaftssekretär Gorbatschow in der Sitzung fragte, was das denn solle, erwiderte Generalsekretär Juri Andropow: Das sind eben die Machtinstrumente, mit denen wir uns auskennen. Diese Episode steht in einem Buch Gorbatschows.

Wer ihn heute einen Ausverkäufer der Errungenschaften eines Weltsystems nennt, wer ihn als einen Schrotthändler auch der DDR-Bestände bezeichnet, wer ihm wirtschaftliche Ideenlosigkeit vorwirft, wer sich hämisch labt an der merkantilen Niederung, in der dieser Kohl-Freund dann eines Tages für »Pizza Hut« warb - der muss sich in seiner jetzigen Freiheit, die ohne einen Gorbatschow so nicht zustande gekommen wäre, doch wohl fragen lassen: Warum wurde dieser Radikalist des Rückzugs einer Weltmacht denn überhaupt nötig? Auch er kam zu spät. Aber der Vorwurf hat an uns zu gehen, die wir nur immer warteten und das Lavieren schon für die Höchststufe des Mutes hielten. Vergessen der politische Raum, der nur noch aus Enge bestand? Vergessen, dass die gesellschaftlichen Strukturen zur Explosion geneigt hätten, wären sie nicht durch Anpassungsdruck und Einschüchterung, durch Gewöhnung und Müdigkeit in eine scheinbar stabile Ordnung gepresst worden? Vergessen, dass in der DDR, hinter vorgehaltener Hand, doch jeder die verfassungsgeheiligte Sowjetunion längst ein unregierbares Reich nannte, ein Land in den zitternden Händen vergreister Militärs, dogmatischer Funktionäre und korrupter Verwalter? Vergessen die Angst der SED vor geistiger Ansteckung? »Gorbi«-Rufe beim FDJ-Fackelzug vor dreißig Jahren, in Anwesenheit Honeckers, waren Elektroschocks im Land, in dem doch hauptsächlich nur noch Kriechstrom das Leben erhellte. Eine Furcht ging um, die das vorwärtstaumelnde Politbüromitglied Kurt Hager in einen lachhaften Assoziationsrausch trieb - er nannte Gorbatschow einen Wohnungstapezierer und fragte laut, warum man es dem Nachbar unbedingt nachtun müsse. Eine Borniertheit war in uns, die auch sowjetische Zeitschriften und Filme verbot, weil diese im Stalinismus nicht einen kranken Zweig, sondern die Wurzel des Systems sahen. Eine Blindheit herrschte, mit der wir uns selber schlugen.

Wenn ich an Gorbatschow in jenem Oktober 1989 denke: Scham wirkt nach - damals nicht wirklich oder höchstens verdruckst beteiligt gewesen zu sein an jenem Hochgefühl von Bewegung, das ausgerechnet ein kommunistischer Politiker noch auszulösen vermochte -, und dies inmitten einer immer mächtiger werdenden Verdrossenheit der einen und einer ideologischen Verbiesterung der anderen. Gorbatschow: endlich offene Rede, endlich ein offenes Gesicht, endlich Nähe und jene Sinnfrage, die freilich ohne Wissen um die offen klaffende Gefahr des Scheiterns nicht gestellt werden kann.

Am Ende jagten sie ihn weg wie einen Hund. Von Hans Magnus Enzensberger, der Gorbatschow den »größten aller Verzichtspolitiker« nannte, stammt der Gedanke: »Der Spezialist der Demontage beweist seinen moralischen Mut, indem er Zweideutigkeit auf sich nimmt.« Es ist dies die Zweideutigkeit, in der eigenen politischen Kaste aufzuräumen, Millionen Menschen somit zu beglücken, aber mit dem Ideologiekoloss doch gleichzeitig die gesellschaftliche Ordnung selber zu zerstören - und Menschen damit auch in eine ungewisse Existenz zu stürzen.

Gorbatschows Schicksal: Den eigenen Dämon, der sich Sozialismus nannte, hat er entwaffnet; aus dem Albtraum der gesellschaftlichen Öde erhob sich die launische Freiheit als neue Galionsfigur. Sie ist eine Figur des Glücksspiels, und nicht jeder hat Kraft und Masse für den nötigen Einsatz. Die sozialen Verwerfungen werden gern Gorbatschow vorgeworfen, noch immer. Er muss sich sogar gegen Stalin-Heldenbilder wehren. Lehre: Der Mensch als Zoon politikon ist und bleibt ein Grund, vorsichtig zu sein.

Ein Protagonist des Rückzugs wird nie jemand sein dürfen, der seine Leistung geachtet ausleben darf. Jeder historische Abbruchunternehmer unterminiert mit seiner Kühnheit stets auch die eigene Position. Die Dynamik, die er auslöst, wirft ihn beiseite. Angesichts dessen darf bei Gorbatschow an Coriolan von Shakespeare/Brecht erinnert werden, der sich als missachteter Held so gekränkt fühlte, dass er sich als Feldherr zum Feind schlug. Da hat es doch Größe und einen sehr friedlichen Zug, nach so viel Hinauswurf und Abservieren zwar auch zum »Feind« zu gehen, aber dort nur für Pizza zu werben.

Geblieben ist Wahrheit. Vom Klimaschutz über die Gierzustände bis zum Rechtsruck: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

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