Religiöser Fanatismus anno 2019

Christoph Ruf sieht den Fußball im Idealfall auch als eine demokratische Veranstaltung

Hin und wieder referiere ich mal zu Themen, die nicht viel mit Fußball zu tun haben. Und wenn ich ehrlich bin, tue ich das sogar lieber als über Fußball zu referieren. Aber das nur am Rande. Am Samstag jedenfalls wollte eine Schülervertretung über Rechtsextremismus diskutieren und über den Klimawandel gleich mit. Die Veranstaltung war auch insofern interessant, als mir danach zu 80 Prozent Fragen gestellt wurden, bei denen ich lieber noch länger überlegt hätte, bevor ich antworte.

Doch es gibt nur einen Menschen, der vor 200 anderen Menschen sehr lange nichts sagen darf, ehe er dann gaaanz langsam antwortet. Und ich bin nicht Winfried Kretschmann.

Es dauerte dann auch nur geschätzte 0,3 Sekunden, bis ich die Antwort - »Man darf nicht nur, man muss sogar« -, die mir spontan in den Sinn gekommen war, heruntergeschluckt hatte. Zuvor hatte mich eine Schülerin gefragt, ob ich fände, dass man auch Standpunkte vertreten dürfe, wenn die gleichzeitig von der AfD artikuliert würden. Ich habe dann aber nach kurzem Überlegen fast genauso geantwortet. Soll ich etwa behaupten, die Erde sei flach, nur weil Gauland oder Meuthen in dieser Frage mal etwas Richtiges sagen?

Ich habe aber lieber ein Ereignis aus dem Fußball genommen, schien mir plastischer. Am vergangenen Donnerstag reisten 1400 Fans der Gladbacher Borussia zum Europa-League-Spiel beim einzigen sinnlosen der vier Istanbuler Vereine; Istanbul Başakşehir, dessen Sympathisanten die Zahl 3600 an diesem Abend nicht überschritten. Das Konstrukt ist auf vielerlei Ebenen mit Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP verbunden. Es ist sportlich erfolgreich, belegte letzte Saison Platz zwei. Vor allem aber interessiert sich für Başakşehir wohl nur der Staatspräsident. Warum sollte man auch zu einem Kunstprodukt rennen, wenn man auch zu Galatasaray, Fenerbahçe und Beşiktaş gehen kann?

Jedenfalls erdreisteten sich die Schergen der Istanbuler Polizei, die Borussen-Fans nach allen Regeln der Kunst zu schikanieren, mit dem traurigen Höhepunkt, dass alle Gladbacher Fahnen konfisziert wurden, die vermeintliche christliche Symbole zeigten. Tatsächlich sind auf dem Gladbacher Stadtwappen unter anderem ein Kreuz und ein Bischofsstab abgebildet. Dass das irgendwelche Polizei-Instanzen und die AKP so sehr stört, dass sie sie entfernen lässt, spricht, finde ich, Bände über das Demokratieverständnis der türkischen Machthaber. Und es spricht Bände über den religiösen Fanatismus, der es anno 2019 nicht erträgt, die Insignien einer Religionsgemeinschaft zu sehen, die das rheinische Mönchengladbach historisch ebenso geprägt hat wie der Islam Istanbul. Wer das nicht abkann, weil ihm seine eigene Religion so über alles geht, dass er alle anderen ausmerzen will, möge sich eine Zeitmaschine ins Mittelalter buchen. Europa möge er aber meiden. Hier gibt es in jeder größeren Stadt Kirchen, Moscheen und Synagogen. Und so soll das bleiben.

Wir haben zudem in Europa, und schon wären wir wieder bei der AfD, zu viele politisch Verwirrte, als dass wir uns auch noch um die Steinzeit-Gläubigen kümmern könnten. Weshalb sich auch die Frage stellt, wie die UEFA mit dem Vorfall eigentlich umzugehen gedenkt? Sollte sie untätig bleiben, wäre das ja der Freifahrtschein für alle Fanatiker des Kontinents, ihren Wahn im Stadion auszuleben.

Ich persönlich habe mit Religion nicht das Geringste am Hut, halte die Chose im besten Fall für harmlosen und im schlechtesten Fall für gefährlichen Unsinn. Aber wenn religiöse Symbole oder Überzeugungen unterdrückt und verfolgt werden, ist das für mich genauso totalitär und antidemokratisch, als handele sich dabei um politische oder andere weltanschauliche Symbole.

Dass Fußball im Idealfall auch hierzulande eine demokratische Veranstaltung ist, zeigten am Wochenende mal wieder die Fankurven bei den Bundesligaspielen. Nehmen wir ein willkürliches Beispiel heraus, das Freiburger 2:2 gegen Borussia Dortmund. Während die Gäste vom BVB die Verabschiedung des langjährigen Freiburger Präsidenten Fritz Keller in Richtung Frankfurt mit »Fußballmafia DFB«-Gesängen orchestrierten, demonstrierten die Freiburger Fans mit Spruchbändern gegen das geplante baden-württembergische Polizeigesetz. Das ist Demokratie. Anstrengend, lebendig. Und definitiv ein weiter Weg für Menschen, die meinen, dass die Regeln für 2019 in Büchern aus dem vorvorletzten Jahrtausend stehen.

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