Wo ist Stalin, wenn Döpfner ihn mal braucht?

  • Tim Wolff
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Sowjetunion war ein Segen. Zumindest für den Kern der alten Bundesrepublik. Nicht nur hatte der Kalte Krieg es ermöglicht, dass die mörderischste Nation der Menschheitsgeschichte, statt abgeschafft zu werden, gleich zwei Staaten bekam, sondern man konnte sich die BRD schön zwischen Nazivergangenheit und Kommunismusangst einrichten. Die soziale Marktwirtschaft war glorreiche Symbiose aus Kapital- und Sozial-ismus, und die wieder gut gewordenen Nazis in allen Gewalten inklusive der sich als vierte glorifizierenden Medien konnten den von Goebbels gelernten Antikommunismus demokratiegerecht umformen. Das mit dem Antisemitismus hatte sich erledigt, wurde unter Nie-wieder-Reden begraben, bei Springer per Arbeitsvertrag verboten und bei »Spiegel« & Co. fleißig umcodiert. Obendrein gab’s ja kaum noch Juden zum Austoben.

Aber welche Gefahr beschwört man herauf, wenn man es mit den Juden (noch nicht wieder) darf und der böse Kommunismus weg ist? Der deutschgeile Mauerfall und die stolze Wiedervereinigung wurden ein diskursives Problem auch für die herrschende Meinung. Klar konnte man noch Jahre die DDR und alles Linke bei jeder Gelegenheit mit dem Reich der eigentlich doch nur circa zehn Nazis gleichsetzen, dank der segensreichen »Totalitarismustheorie«. Doch reichte das nicht zur Delegitimierung der Ansprüche Marginalisierter. Was keift man, wenn »Geh doch nach drüben!« nicht mehr geht?

So kam die »political correctness« gerade recht. Aller Wahrscheinlichkeit nach im Ursprung ein ironischer Kampfbegriff unter amerikanischen Kommunisten zur Belächelung besonders Linientreuer, wurde er Anfang der 90er zum unironisch abwertenden Sammelbegriff für alles, was den Sieg über die Roten schmälerte - etwa, dass jemand den systeminhärenten Rassismus, Sexismus usw. benennt. Perfid funktionierte das obendrein, denn die US-Öffentlichkeit kennt ja tatsächlich eine Sprachpolizei, die Federal Communications Commission (FCC), die Wörter aus dem Funk verbannt. Während in großen Medien weiße Journalisten und Politiker jammerten, sie dürften nichts mehr sagen, erschwerten sie Schwarzen, allen voran Rappern, per erweiterter Sprachzensur den Ausdruck.

Es wundert nicht, dass dieser Begriff bis heute die Waffe der Meinungsherrschenden in Deutschland geblieben ist. Wenn also Springer-Chef Mathias Döpfner beim »Spiegel« als »Meinungsmacht in Person« zum Interview auftaucht, trieft die Sehnsucht nach früher und jammert es überraschungslos: »Der Diskurs ist politisch korrekt sediert. Ich vermisse lebendige Debatten und überraschende Positionen.« Buhu. »Es wird immer riskanter, unvorbereitet und ungescripted etwas zu sagen.« Es könnte ja Widerspruch kommen, der natürliche Feind einer lebendigen Debatte. »Deshalb glaube ich, dass zu viel politische Korrektheit am Ende exakt das Gegenteil bewirkt: Intoleranz, Rassismus, Xenophobie.« Genau - wer strukturelle Menschenfeindlichkeit zu benennen versucht, schafft sie erst. Für diese zigmal im Gespräch variierte »These« kann Döpfner einen Zeugen überraschend positionieren: »Wir erleichtern der AfD ihre widerliche Taktik, indem wir die Räume des öffentlich Sagbaren enger machen. Das hat sogar Barack Obama ganz grundsätzlich in einem Interview kritisiert.« Verlässt man den engen Raum des öffentlich Sagbaren, wenn man meint, dieses »sogar« entspringe Döpfners Rassismus? Ist es lebendig genug, zu sagen, die Vorstellung von Volksgesundheit im Satz »Ich glaube, es ist nicht gesund, wenn sich die veröffentlichte Meinung zu weit vom Meinungsbild der Gesamtbevölkerung unterscheidet« sei sedierter Goebbels-Diskurs? Und dass sich die personifizierte Meinungsmacht mindestens Stalin (für andere) zurückwünscht, wenn sie mitteilt: »Meine paradoxe Beobachtung: Je weniger Mut es kostet, seine Meinung zu sagen, desto weniger Mut ist vorhanden. Unter Hitler und Stalin haben Menschen ihr Leben riskiert«? Ja, so schön war die Zeit.

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