Modell Hongkong am Ende

Die Stadt muss sich vielleicht schon bald neu erfinden.

  • Alexander Isele
  • Lesedauer: 6 Min.

Pflastersteine liegen verstreut auf den Straßen, die von Häusern mit eingeschlagenen Fensterscheiben gesäumt sind. Überall Tränengas, Wasserwerfer, Brandbomben. 1000 Menschen wurden allein in drei Tagen verhaftet. Die neue Protestwelle in Hongkong hat eine neue Qualität der Gewalt. Das zeigen die Bilder von der Besetzung und Belagerung der Polytechnischen Universität, wo noch immer Dutzende junge Menschen ausharren. Das zeigen aber auch diese Zahlen: Über 10 000 Tränengasgranaten hat die Polizei in den vergangenen fünf Monaten verschossen, zwei Menschen wurden mit scharfer Munition getroffen. Der radikale Teil der Protestierenden schießt mit Pfeilen auf Polizisten, in den Wohnheimen der Chinesischen Universität Hongkong sollen diese Woche 8000 einsatzbereite Molotowcocktails sichergestellt worden sein.

Es sind diese Bilder und Nachrichten, die das Ende Hongkongs als Sonderverwaltungszone befürchten lassen. Doch sie sind es nicht allein: Als am vergangenen Wochenende erstmals Soldaten der in Hongkong stationierten chinesischen Volksbefreiungsarmee (PLA) ihre Kaserne verließen, um die Straßen von Blockaden zu befreien, dürfte allen Hongkongern die Bedeutung der Aktion klar gewesen sein. Ein Soldat erklärte der «South China Morning Post» ganz offen, dass die Truppen unabhängig von der Regierung Hongkongs handelten: «Wir haben das initiiert. Die Gewalt zu stoppen und das Chaos zu beenden, ist unsere Verantwortung.»

Stephan Ortmann, Juniorprofessor an der City University of Hong Kong, glaubt, die Volksbefreiungsarmee solle mit der Aktion in Position gebracht werden, um ihre spätere Teilnahme am Konflikt vorzubereiten. Die PLA wolle mit der Aufräumaktion ihre Rolle in der Gesellschaft stärken und sich in ein positives Licht setzen, sagt er dem «nd». «Viele Hongkonger sehen das aber anders. Sie sind gegen derlei Einmischungen in innere Angelegenheiten Hongkongs.» Ortmann räumt allerdings ein, dass es sich um seine persönliche Einschätzung handele und es keine Umfragen dazu gebe.

Unabhängige Justiz?

Wie sehr die chinesische Regierung bereit ist, sich über die Rechte der Sonderverwaltungszone hinwegzusetzen, zeigte sich auch zu Beginn der Woche. Nachdem das Oberste Gericht Hongkongs das von der Regierung verabschiedete Vermummungsverbot am Montag als verfassungswidrig eingestuft hatte, sprach die chinesische Regierung tags darauf den Hongkonger Gerichten erstmals das Recht ab, Gesetze auf Vereinbarkeit mit der Hongkonger Verfassung zu prüfen. Der Nationale Volkskongress Chinas sei die einzige Institution, die Entscheidungen über die Verfassung der Sonderverwaltungszone treffen könne, so Parlamentssprecher Zang Tiewei in Peking.

In Hongkong sorgte die Aussage für Irritationen. Anson Chan, sowohl unter britischer Kolonialherrschaft als auch in der ersten Regierung der Sonderverwaltungszone die Nummer 2 in der Stadt, sprach gegenüber dem «nd» von einem ernsthaften Bruch mit der chinesisch-britischen «Gemeinsamen Erklärung». Darin heißt es, dass die Sonderverwaltungszone mit exekutiver, legislativer und judikativer Gewalt ausgestattet sei. Letztere mit von China unabhängiger Entscheidungshoheit. «Wird die Position Pekings umgesetzt, unterminiert dies die Unabhängigkeit der Hongkonger Justiz und die Rechtsstaatlichkeit auf schwerwiegende Weise. Das wird dem Vertrauen der Wirtschaft einen tödlichen Stoß versetzen und damit auch Hongkong als erstklassigem Finanz- und Servicestandort», so Anson Chan Fang.

Sollte Zang Tieweis Drohung wahr gemacht werden, wäre dies das Ende des Modells «Ein Land, zwei Systeme». Streitpunkt ist dabei die Auslegung des Artikels 158 der Hongkonger Miniverfassung, demzufolge die örtlichen Gerichte nur in jenen Fällen die Verfassung interpretieren dürfen, die «innerhalb der Grenzen der Autonomie der Region» liegen. Wenn der Verantwortungsbereich der Regierung Chinas oder die Beziehung zwischen der Volksrepublik und der Sonderverwaltungszone betroffen sind, müssen laut Grundgesetz die Gerichte in Hongkong die Auslegung dem Nationalen Volkskongress Chinas überlassen.

Das hat der Nationale Volkskongress seit Rückgabe der britischen Kolonie an China im Jahr 1997 fünfmal getan. Zweimal hatte die Regierung in Hongkong darum gebeten, einmal das Oberste Gericht. In zwei Fällen agierte der Volkskongress selbstständig. Im ersten legte Peking Hongkong 2004 neue Regeln für eine mögliche Wahlreform auf. Im zweiten und in Hongkong hoch umstrittenen Fall griff Peking 2016 in das Gerichtsverfahren um die beiden ins Hongkonger Parlament gewählten Abgeordneten Yau Wai Ching und Baggio Sixtus Leung Chun Hang ein. Diese hatten bei ihrer Vereidigung antichinesische Aussagen gemacht. Der Volkskongress legte das Grundgesetz gegen die beiden aus, Hongkonger Gerichte untersagten ihnen daraufhin, ihre Mandate anzutreten.

Neben der möglichen Aufweichung von «Ein Land, zwei Systeme» wuchs in dieser Woche die Gefahr, dass die Stadt zwischen die Fronten des Konfliktes Pekings mit den USA gerät. Beide Kammern im US-Kongress haben nun zwei Gesetze verabschiedet, die mit Sanktionen und dem Verlust von Handelsprivilegien drohen, sollten die vertraglich festgehaltenen Rechte der Sonderverwaltungszone weiter eingeschränkt werden. China warnte US-Präsident Donald Trump eindringlich davor, die Gesetze mit seiner Unterschrift in Kraft zu setzen. Einige der radikalen Demonstranten, die sich die Gesetze gewünscht hatten, könnten nun die Polizeikräfte provozieren und so die USA auf ihrer Seite in den Konflikt mit der Volksrepublik hineinziehen wollen.

An diesem Sonntag finden in der chinesischen Sonderverwaltungszone Bezirkswahlen statt. Sie könnten zu einer Abrechnung mit Regierungschefin Carrie Lam werden - oder aber mit den radikalen Protestierenden. Für die Wahlen registriert haben sich jedenfalls so viele Bewohner wie bei keiner Wahl zuvor. In Umfragen ist die Zustimmung zur Regierungschefin so niedrig wie bei keinem ihrer Vorgänger. Laut Stephan Ortmann von der City University machen die Parteien wegen des Konfliktes weniger Wahlkampf als bei früheren Wahlen.

Kampf um Rechtsstaatlichkeit

Anson Chan sieht in den von Carrie Lam angekündigten Wohnungsbau- und Sozialprogrammen keinen Vorteil für Parteien des Pro-Peking-Lagers der Regierungschefin. «Natürlich sind bezahlbarer Wohnraum und die schwerwiegende Ungleichheit ein Problem in der Stadt. Aber sie sind nicht die Wurzeln dieser politischen Krise.» Anson Chan glaubt auch nicht, dass sich die schlechten wirtschaftlichen Aussichten inklusive steigender Arbeitslosenzahlen durch den Konflikt negativ auf das Pro-Demokratie-Lager auswirken: Die Menschen in Hongkong kämpfen für ihre fundamentalen Rechte und die Rechtsstaatlichkeit. Das ist die Identität Hongkongs, das unterscheidet uns von allen anderen chinesischen Städten. Die Jungen in der Stadt schätzen diese Freiheiten weit mehr als irgendeinen finanziellen Gewinn.«

Doch sollte das »Ein Land, zwei Systeme«-Modell der Sonderverwaltungszone wirklich fallen, dürften diese Freiheiten schnell eingeschränkt werden. Hongkong musste sich in der Vergangenheit schon oft neu erfinden. Dabei profitierte es zumeist von China. Etwa als nach der Öffnung Chinas in den 1980er Jahren die Produktionsindustrie in die Sonderwirtschaftszone Shenzhen abwanderte und Hongkong sich zum Handels- und Dienstleistungszentrum wandelte. Oder 2003, als nach dem Ausbruch der SARS-Epidemie die westlichen Touristen ausblieben und Peking zum Ausgleich Festlandchinesen die Reise nach Hongkong ermöglichte, worauf sich die ganze Stadt neu einstellte. Jetzt steht wieder eine Neuerfindung an. Diese droht aber ganz anders auszufallen: Hongkong könnte sich als eine von vielen chinesischen Städten wiederfinden. Und zwar schon viel früher als 2047, wenn »Ein Land, zwei Systeme« ausläuft.

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