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Realismus und Absurdität

Neue Wunder aus der inoffiziellen Sowjetkultur: Wsewolod Petrows philosophische Erzählungen

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Bücherfreunde werden sich glücklich schätzen, dass der Verlag Friedenauer Presse, den Katharina Wagenbach-Wolff 2017 aus Altersgründen abgeben musste, von Matthes & Seitz übernommen wurde und nun von Friederike Jacob weitergeführt wird. Damit sind neue Entdeckungen aus der internationalen Moderne und Avantgarde, insbesondere der jahrzehntelang unterdrückten russischen Literatur, in sorgfältiger Ausstattung zu erwarten. Der schmale Prosaband »Wunder« von Wsewolod Petrow (1912-1978) ist die erste Neuentdeckung dieser Art.

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Wsewolod Petrow: Wunder. A. d. Russ. u. hrsg. v. Daniel Jurjew. Friedenauer Presse, Wolffs Broschur, 118 S., br., 18 €.

Petrow stammt aus einer alten Petersburger Adelsfamilie. Er ging in die gleiche Schulklasse wie Pawel Salzmann, der Maler aus der Filonow-Schule und Verfasser des (aus dem Nachlass geborgenen) monumentalen Bürgerkriegsromans »Die Welpen«.

Als Mitarbeiter der Handschriftenabteilung des Russischen Museums in Leningrad publizierte Petrow Sachbücher und Aufsätze über die Geschichte der russischen Kunst. Außerdem schrieb er in den 30er und 40er Jahren einige Prosatexte und Erinnerungen, die er im kleinen Kreis vortrug, aber nie zur Veröffentlichung vorsah. Sie entstanden unter dem Einfluss seiner Freunde - des genialen Avantgardisten Daniil Charms, des Universalkünstlers Michail Kusmin und des Kunsthistorikers Nikolai Punin.

Vor einigen Jahren war das literarische Werk von Petrow gar nicht bekannt. Deshalb war 2006 die Publikation der 1946 entstandenen Erzählung »Die Manon Lescaut von Turdej« in der Zeitschrift »Nowy mir« eine große Überraschung. Noch niemand hatte die Geschichte einer Liebe im Krieg so ergreifend erzählt wie Petrow. Er bezog sich auf eine tragische Heldin des Abbé Prévost aus dem 18. Jahrhundert und hob die Vorgänge in einem russischen Sanitätszug, der sich zwischen den Fronten des Zweiten Weltkriegs bewegt, auf eine allgemein-menschliche Ebene. Im Nachwort zur deutschen Übersetzung, die 2012 im Verlag Weidle erschien, erklärte der Dichter Oleg Jurjew, der Text von Petrow repräsentiere in herausragendem Maße die illegale »zweite« Leningrader Kultur.

2017 kam in Moskau ein weiterer Band aus dem literarischen Erbe Petrows heraus: Prosa, Tagebuchnotizen, Briefe und Gedichte. Daniel Jurjew hatte für den Auswahlband »Wunder« 19 Miniaturen aus dem zwischen 1939 und 1946 entstandenen Zyklus »Philosophische Erzählungen«, die Novelle »Eine Winternacht« (1948) und »Erinnerungen an Charms« ausgewählt und übersetzt.

Durch das innige Zusammenspiel von nüchternstem Realismus und exzentrischer Absurdität erinnern diese Werke stark an Daniil Charms. Von seiner beruflichen Tätigkeit inspiriert, kreisen Petrows Texte um das Thema Kunst, die er als eine Symbiose von Wunder und Schönheit betrachtet. Im krassen Gegensatz zur Doktrin des sozialistischen Realismus umspielt er in mehreren seiner »Philosophischen Erzählungen« dieses Thema und betont dabei überraschende Aspekte. In »Die alte Frau und der Mann« rutscht der Mann dreimal aus, als er die Frage der neugierigen Frau, was er für ein Wunder halte, beantworten will. Vielleicht gibt es gar keine Wunder, denken die einen. Wunder geschehen im Sommer häufiger als im Winter, meinen die anderen. Absurde Formulierungen in äsopischer Sprache, die sich gegen den platten Realismus und den vorgeschriebenen Fortschrittsglauben der offiziellen Sowjetkultur stellten.

In den »Erinnerungen an Charms« geht Petrow ernsthafter an das Phänomen Wunder heran. Charms sei der Ansicht gewesen, »dass die Erwartung des Wunders den Inhalt und den Sinn des menschlichen Lebens ausmache«. Jeder stelle sich das Wunder auf seine eigene Weise vor, in Abhängigkeit von seiner Seele. Jeder wolle, ohne es selbst zu wissen, die Unsterblichkeit erlangen. Genau das sei »das echte Wunder, auf das man wartet und auf dessen Ankunft man hofft«. In der Erzählung »Die Schönheit« und in der Novelle »Eine Winternacht« nimmt das Motiv des Wunders die Gestalt der Schönheit an: Der Erzähler sieht das Wunder darin, eine außergewöhnlich schöne Frau zu finden und für sich zu gewinnen.

Petrows Werke, die eine lustvolle Absage an die verordnete Weltsicht darstellen, passten ebenso wenig in die offizielle Sowjetkultur wie die absurden Texte der Oberiuten um Daniil Charms.

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