Das Reich

Warum das deutsche Vaterland rechts war und rechts bleibt. Eine Übersicht.

  • Stefan Gärtner
  • Lesedauer: 6 Min.

Nach den Morden von Hanau strömten Menschen wie Semih Doganay aus dem nahen Frankfurt am Main zum Tatort, um der Opfer zu gedenken und ein Gefühl zu artikulieren, das auch dann einleuchtet, wenn man selbst eher nicht zum potenziellen Opferkreis rechnet: »Ich habe kein Vertrauen mehr in die Mehrheitsgesellschaft. Ich bin müde.« Die Kollegin der Zürcher »Wochenzeitung« hat auch dieses Zitat aus Hanau mitgebracht: »Bald wird vergessen sein, was hier passiert ist, und dann geht es weiter wie bisher.«

Sicher, Deutschland hat Auschwitz und noch einiges mehr angerichtet und also, über Massengräber vorwärts, seine Lektion so gut gelernt, dass seine Bundespräsidenten, weil die Naziverbrecher tot sind, nicht mehr von »Naziverbrechen«, sondern von deutschen sprechen. Und fragte Franz Josef Strauß einst rhetorisch, ob die westdeutsche Aufbauleistung die Landsleute nicht dazu berechtige, von Auschwitz nichts mehr hören zu müssen, ist heute zwar in den Sonntagsreden jederzeit von Auschwitz die Rede, aber die Synagogen stehen immer noch unter Polizeischutz, und wenn sie es nicht tun, dann aus den falschen, nämlich bösen Gründen.

Deutschland, das sollten sich auch jene klar machen, die seine Verfassung schätzen und es mit dem Reichspastor Gauck für das beste Vaterland aller Zeiten halten, ist kein linkes Land, ist es nie gewesen. »Strukturkonservativ« hat das die Politikwissenschaft mal genannt, und noch Willy Brandt, der bekanntlich mehr Demokratie wagen wollte und, ein verbissener Antikommunist, für das sogenannte »bessere Deutschland« steht wie sonst höchstens Goethe, fand im Wahlkampf, die Deutschen sollten stolz sein auf ihr Land. Womit er, nicht anders als Strauß, das wiederaufgebaute meinte, weniger, dass Franz Josef Degenhardt keinen Grund mehr für seinen »Tonio Schiavo« gehabt hätte: »Er schaffte und schaffte für zehn auf dem Bau / Und dann kam das Richtfest, und alle waren blau / Der Polier, der nannte ihn ›Itakersau‹/ … Tonio Schiavo, der zog sein Messer / Das Schnappmesser war’s aus dem Mezzogiorno / Er hieb’s in den fetten Bauch vom Polier / Und daraus floss sehr viel Blut und viel Bier / Tonio Schiavo, den schnappten gleich vier / … Sie warfen ihn siebzig Meter hinab / Er schlug auf das Pflaster und zwar nur ganz knapp / Vor zehn dünne Männer, die waren müde und schlapp / Kamen gerade aus der Ferne / Aus dem Mezzogiorno ins Paradies / Und das liegt irgendwo bei Herne.«

Sicher sagt, nach einem Halbjahrhundert Pizza und Pasta, niemand mehr »Spaghettifresser«; aber wenn der deutsche Bildungsbürger und Sozialdemokrat Sarrazin in ein Buch schreibt, Türken und ihre Kopftuchtöchter seien von Haus aus dümmer als das, was oben Mehrheitsgesellschaft hieß, dann kaufen das Millionen, im besten und aufgeklärtesten Deutschland aller Zeiten. Das diesen Titel allenfalls deshalb in Anspruch nehmen kann, weil seine Maßstäbe immer andere waren als die West- und Nordeuropas; der Historiker Heinrich August Winkler hat vom »langen Weg nach Westen« gesprochen, der Soziologe Helmuth Plessner von der »verspäteten Nation«.

Während im 17. und 18. Jahrhundert die britische und französische Bourgeoisie auch die politische Macht ergreift, muss das deutsche Bürgertum seinen beinah totalen Ruin im Dreißigjährigen Krieg verkraften, was, im Verbund mit der vom Antisemiten, Pöbelhasser und Staatskirchenvater Luther in die Köpfe gepflanzten Obrigkeitsfrömmigkeit, den deutschen Bürger zu jenem Untertan macht, den Heinrich Mann nicht erst entstellen muss. Was für die westlichen Nachbarn Republik war, war für Deutschland immer bloß Staat, etwas, was rechtshegelianisch seine Idee in sich selbst hat, und zwar bestenfalls; denn der letzte Bezug deutschen politischen Denkens ist nicht einmal der Staat. Es ist das Volk. »Im Volksgedanken spricht sich das spezifisch Deutsche, Antiwestliche des antidemokratischen Denkens aus«, heißt es in Kurt Sontheimers Standardwerk über »Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik«. »Der antiliberale Staatsgedanke ist in Deutschland von der Idee des Volkes nicht zu lösen.« Nicht die bürgerliche Nation ist deutsch, sondern das Volk, das keinesfalls linksrevolutionär zu denken ist, sondern im Gegenteil den rechten Mythos bezeichnet, der Gemeinschaft gegen Gesellschaft in Stellung bringt.

»Organisch« ist ein Lieblingswort der Nationalromantiker und später Völkischen, denn während der Westen seine Ordnung errichtet, empfinden sie die Deutschen als gewachsen; sie ist, als göttlich-natürliche, der westlichen gerade darum überlegen. Darauf ruht und daraus wächst die Zwangsvorstellung vom Heiligen Reich, dessen quasireligiöse, sendungsbewusste Universalität den zunächst fehlenden Nationalstaat entschuldigt und, als es ihn dann als unvollständigen, »kleindeutschen« gibt, ins Totale überhöht, damit den Defekten eines bloß ideell-»innerlichen« Bürgertums entgegenkommend. »Großmacht ohne Staatsidee« nennt Plessner das Zweite Kaiserreich, das, über den gängigen und systemischen Imperialismus hinaus, nach Bismarcks strengem Preußentum überschnappt: weil es so hohl und selbstbezüglich ist. Der Deutschen Reich ist nicht von dieser Welt, und der Versuch, es zu hypostasieren, hat immer etwas von einem Glaubenskrieg.

Deutsches Wesen, dessen »Verhältnislosigkeit zur Aufklärung« Plessner hervorhebt, ist nicht Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ist nicht Zivilität, Bürgersinn und Geschmack, sondern Ordnung, Treue, Sitte, Pflicht. »Deutsch sein heißt, Dinge um ihrer selbst willen tun«: dass Richard Wagner das so nicht gesagt hat, macht den Satz nicht unwahr. Hitler ist kein »Freak-Unfall der Deutschen« (Matthias Matussek), sondern, sofern Geschichte konsequent sein kann, die Konsequenz deutscher (Geistes-)Geschichte, und dass der Nationalsozialismus (auch wenn nicht einmal die Hälfte der Deutschen 1933 für Hitler stimmt, er war ihnen Pöbel) eine, wie Thomas Mann 1944 festhält, »enthusiastische, funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung war«, folgt umweglos aus dem spezifisch deutschen Fimmel um Volk und Reich und Blut und Sendung. Von der sogar Heine beseelt war, dem vorschwebte, »die ganze Welt« müsse »deutsch werden«, nämlich wiederum erlösungshalber, »wenn wir das vollenden, was die Franzosen begonnen haben, … wenn wir die Erlöser Gottes werden, wenn wir das arme, glückenterbte Volk und den verhöhnten Genius und die geschändete Schönheit wieder in ihre Würde einsetzen« - darunter haben es die Deutschen noch als Dissidenten selten gemacht.

Die deutsche Demokratie ist ein westlicher Import, das Nachkriegsdeutschland war ein selbstmitleidig verstocktes mit Nazis in höchsten Ämtern. Der deutsche Kommunistenhass, der heute als »Hufeisentheorie« firmiert und den Antimarxismus des Dritten Reiches fortsetzt, ist wiederum ein völkischer, denn Kommunisten sind Internationalisten und so vaterlandslos wie die Juden als Verkörperung des Finanzkapitals. Und wenn wir etwas hassen, dann den, der kein Vaterland hat, der in Gedanken oder qua bloßer Existenz Volk und Vaterland zersetzt, denn wer schwach ist, braucht den starken Vater, und alles Gute kommt von oben. Und also ist, ob als flott-modische »Heimat« oder Wahn von der bedrohten Rasse, der Deutschen Vaterland, ob sie’s nun wissen oder nicht, das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

»Ich weiß kein verhärteteres Kollektiv in der ganzen Welt« (Max Horkheimer, 1961). Und also geht es weiter wie bisher. Gute Nacht.

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