Arbeitskampf unter Pandemie-Bedingungen

Ob auf der Straße oder im Internet: In Russland organisieren sich einige Arbeiter und Arbeiterinnen in neuen Gewerkschaften

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir sind der Rettungsdienst von Armawir, wir haben die versprochenen Zahlungen nicht bekommen. Keinen Rubel, keine Kopeke. Nicht die Ärzte, nicht die Sanitäter, nicht die Schwestern, nicht die Fahrer.« Was die Menschen in ihrer Arbeitskleidung, auf Sicherheitsabstand voneinander stehend im Chor deklamieren, ist seit gut einem Monat Leitmotiv vieler Videos, die durchs russischsprachige Internet kursieren. Entstanden sind diese Videos im ganzen Land, etwa in Waldimir, Rjasan, Irkutsk, Republik Karatschajewo-Tscherkessien und Murmansk.

Der Grund: Die von Präsident Wladimir Putin versprochenen Risikozuschläge für »heldenhafte Mediziner« kommen bei den Adressaten nicht an. Für die Verbreitung der Videos sorgt die »Allianz der Ärzte«. Angeführt wird sie von Anastasia Wasiljewa, die Augenärztin des selbst ernannten Antikorruptionsaktivisten Alexej Nawalnyj.

Die vor zwei Jahren gegründete Gewerkschaft ist entsprechend eng mit Nawalnyjs Stiftung zur Bekämpfung der Korruption vernetzt. Wöchentlich lädt »Allianz« Videos über Zustände in Provinzkrankenhäusern, Berichte über Mangel an Masken und Schutzanzügen und seit Neuestem die kollektiven Ansprachen des Krankenhauspersonals an den Präsidenten und die Regierung ins Internet. Die zentrale Frage dabei: Wem stehen entsprechende Zahlungen zu, wer gilt als Risikogruppe? Die Antwort der Allianz: alle.

Die Pandemie-Maßnahmen in Russland haben zwar das öffentliche Leben massiv eingeschränkt, die Proteste der Lohnabhängigen haben deswegen keineswegs aufgehört. Bereits Ende April kam es zu ersten Protestkundgebungen während des Lockdowns. Damals gingen in Kaliningrad 50 Näherinnen auf die Straße. Die Frauen bekommen einen Stücklohn, da aber der Fabrikbesitzer sich nicht mit dem Vermieter der Räume einigen konnte, wurde in den Arbeitsräumen einfach der Strom abgeschaltet. Die Beschäftigten wurden nie ausgezahlt.

Am anderen Ende des Landes, in Jakutien, waren es ausgerechnet die Arbeiter des staatlichen Erdgasfördergiganten »Gazprom«, die die Arbeit niederlegten, die einzige Straße zu der Raffinerie blockierten und in drastischen Ausdrücken die fehlenden Schutzmittel und medizinische Hilfe verlangten. Auslöser der Proteste war die rapide wachsende Anzahl der Infizierten in der entlegenen Taiga-Siedlung unter den Saisonarbeitern. Schon bald wurden den Protestierenden die Evakuierung der Kranken und ärztliche Präsenz vor Ort zugesichert.

Nicht immer sind Forderungen der Protestierenden so formuliert, dass sie Chancen auf Solidarität von außen steigern. In etlichen Städten blockierten im April streikende Taxi- und Busfahrer den Verkehr - dabei verlangten die letzteren von dem Verkehrsunternehmen »Yandex-Taxi« ausgerechnet Fahrtpreiserhöhungen.

Unter Pandemie-Bedingungen, während sich das politische Leben ins Internet verlagert, kommt es zu neuen Organisationsformen. Eine anonyme Initiativgruppe vernetzt Medizinstudenten, die gerade von ihren Hochschulen zu »freiwilligen« Praktika in den sogenannten roten Zonen und auf den Corona-Stationen der Krankenhäuser gezwungen werden. »Studenten sind keine Sklaven, Studenten sind kein Kanonenfutter«, lautet der Slogan - bei der Rekrutierung der »Volontäre« wird weder auf die Zugehörigkeit zu Risikogruppen noch auf die Arbeitsschutzgesetze Rücksicht genommen. »Wenn die angehenden Ärzte der Pandemie zum Opfer fallen«, so ein Argument der Initiative, »wer wird dann die Gesundheitsversorgung gewährleisten?«

Das »Recht auf Quarantäne« vertritt auch die neu gegründete »Virus-Gewerkschaft«. Das mit der trotzkistischen Sozialistischen Alternative kooperierende Projekt bekam in den ersten zwei Monaten seiner Existenz über 300 Anfragen aus allen Ecken Russlands. Auch wenn es laut der Aktivistin Ayten Yakubowa nur zehn feste Mitglieder gibt, haben Netzkampagnen gegen Unternehmer, die ihre Beschäftigten zur Arbeit in der Quarantäne zwingen, ihnen Masken und Desinfektionsmittel verweigern oder für den Ausstand nicht bezahlen, bereits erste Früchte getragen.

Der größte russische Online-Händler »Wildberries« musste die Mitarbeiter mit Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel ausstatten, nachdem Informationen über die Zustände per Internet Medien und Kunden erreichten. In Zukunft hofft Ayten Yakubowa auf die Zusammenarbeit mit Nawalnyj-Gewerkschaften, jedoch kritisieren sie und ihre Genossen, dass sowohl die Allianz der Ärzte als auch die zweitgrößte Gewerkschaft im Land, Konföderation der Arbeit Russlands, letztendlich Hilfsappelle an die Regierung senden, die ja die aktuelle Situation verschuldete. Damit werde die Illusion aufrechterhalten, dass die händeringend verlangten staatliche Hilfen an die Unternehmen den Erhalt der Arbeitsplätze gewährleisteten.

Auffällig ist, dass der größte Gewerkschaftsdachverband Russlands - die Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften - sich in der Coronakrise weitgehend still verhielt. Zurzeit sammeln die Ortsverbände Maskenspenden für die Kollegen in der Gesundheitsbranche. Noch einen Monat zuvor wurden solche Aktionen der Allianz der Ärzte in den staatlichen Medien als »Panikmache« und »Populismus« gegeißelt.

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