Wer ersetzt das Wunder?

Alfred Kolleritschs letztes Buch: «Die Nacht des Sehens»

  • Ewart Reder
  • Lesedauer: 4 Min.

Literarisch Langzeitgebildete kannten Alfred Kolleritsch seit Jahrzehnten, weil er die «manuskripte» herausgab. Die Grazer Literaturzeitschrift galt in den 60ern und 70ern vielen als die wichtigste in deutscher Sprache. Peter Handke kam da heraus, wurde und blieb ein Lebensfreund des Herausgebers. Dieser starb am 29. Mai in Graz im Alter von 89 Jahren. Seine Gedichte werden seinen Herausgeberruhm vielleicht überdauern. Denn Alfred Kolleritsch schrieb im Alter eine grandiose Poesie.

Nicht dass dies überraschend gekommen wäre. «Zwölf Bände mit Gedichten von Alfred Kolleritsch», schreibt Michael Krüger im Nachwort des zum Jahresbeginn erschienenen dreizehnten und letzten, «stehen hinter mir im Regal.» Die zwölf haben es schon in sich, das versonnen luzide Ingenium eines Dichters, der zeitlebens hinter anderen stand. Hinter den Beiträger*innen seines Magazins, hinter dem weltberühmten Freund.

Aus einer Distanz zum Literaturbetrieb, die er als Gymnasiallehrer wahren konnte, wurde Kolleritsch sich seiner poetischen Sache noch sicherer als der Idiosynkrat Handke. «Gedankenlyrik» ist diese Sache genannt worden, was angehen mag, wenn die Feststellungen der fünf Sinne und die multiple Erinnerungsfähigkeit des Körpers mit zum Gedanklichen zählen. Denn die Vernunft genießt das Vertrauen des Autors nicht. Und die Sprache auch nicht.

In der Lyrik des beinahe 90-Jährigen dominieren hybride Setzungen zwischen Abstraktion und erfahrener Körperlichkeit, zwischen Bildspeicher und Imagination, unter Verzicht auf Kompromissformeln aus der Lyriktradition. So klingt Kolleritschs Sprechen seit dem vorigen, noch bei Droschl erschienenen Band «Es gibt den ungeheuren Anderen», der hier unbedingt mit empfohlen sei.

Peter Handke leitete ihn 2013 ein, berichtete von einer schweren Krankheit des Freundes, Monaten im Koma. Leben und Schreiben haben so lange nichts miteinander zu tun, wie nichts erlebt wird. Das gilt für die Biografie Kolleritschs insgesamt und an ihrem Ende exemplarisch: Gedichte sind Lebensäußerungen. Dichter*innen sagen uns Dinge, die nur sie allein wissen. Der Dichter aus Brunnsee hat zuletzt Dinge zu sagen, die andere durch ihn zu ahnen beginnen. Und er antwortet auf die Frage nach dem Ort seiner Gedichte mit dem Herzen der Leserin:

Sie nimmt das Geschriebene,

fühlt es weiter zum Gedicht,

formt um aus dem Rauschen

die Gestalt, eh sie verklingt,

im Schweigen sich verbirgt

im Gedächtnis ihrer Poesie.

Vor zwei Jahrzehnten, in der Kunsterzählung «Der letzte Österreicher», schrieb Kolleritsch: «Der wahre Maler malt keine Gegenstände, er malt die Nähe.» Damit ist das Projekt auch des Poeten benannt. Und damit wiederum hängt zusammen, dass die meisten Verse Kolleritschs um Liebeserfahrungen kreisen, immer noch und mehr denn je in «Die Nacht des Sehens». Der Titel spielt auf Handke an. Das Titelgedicht konzediert dessen Mysterium der Beobachtung und geht darüber hinaus mit der Frage: «wer ersetzt das Wunder, / wer macht die Nacht des Sehens / zum Tage?» Eine Antwort ist das Erinnern. Nach Max Frisch «gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Die Erinnerung wird ihn entwickeln.»

Die Gleichung impliziert: Wie der Filmstreifen sind wir analog. Aus den Liebesfeiern und -pleiten seines langen Lebens erzeugt Kolleritsch eine über viele Texte gehaltene Hochspannung des Herzens, jünger als die «junge Lyrik».

Diese späten Gedichte erzählen keine Geschichten mehr, nennen keine Namen. «Sie», wer immer das im Einzelnen war, ist die finale Protagonistin. «Über sie gestürzt, der Verfall der Zeit. / Aus dem Abschiedszwang / in die Heimtücke des Verzichts.» Außer liebes- ist der Poet naturerfahren, die ländliche Herkunft bürgt am Ende des Lebens für Sätze von geheimer Seltenheit in der Lyrik. W. S. Merwin, der jahrzehntelang Bäume pflanzte, konnte Ähnliches wie das: «Angstverkrochen in den Misteln / verstehen wir das Gesicht des Verdorrens ...» Das Wunder des Sehens ersetzen? Am Ende braucht es dafür vielleicht ein noch größeres Wunder.

Manchmal fallen die Gedichte

vom Himmel, am nächsten sind sie,

wenn sie verschwinden,

versunken in sich selbst.

Keiner kennt ihr Inneres,

die Werkstatt der Schrift.«

Alfred Kolleritsch: Die Nacht des Sehens. Gedichte. Mit einer Nachbemerkung von Michael Krüger. Wallstein, 90 S., geb., 18 €.

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