Einsam umsorgt

Senioren in Heimen sehen sich in der Coronazeit um ihre Freiheit betrogen, wie ein Beispiel in Schmalkalden zeigt

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 7 Min.

Familie Döhrer ist telefonisch zu erreichen. Die fast 85-jährigen Eheleute wohnen in einer modernen Senioreneinrichtung in Schmalkalden, die erst 2018 eingeweiht wurde, und haben einen eigenen Festnetzanschluss. Betreutes Wohnen, heißt diese Form der Unterbringung. Und betreut fühlen sie sich gut, die Döhrers. Auch über die Einrichtung mit dem verheißungsvollen Namen »Hoffnung« wollen und können sie sich nicht beklagen. Sie pflegen ein »herzliches Verhältnis« zu den Pflegekräften, wie sie in einem Brief schreiben, der auch das »neue deutschland« erreicht hat. Und auf die Arbeiterwohlfahrt als Betreiber ihrer Einrichtung lassen sie im Gespräch ebenfalls nichts kommen. Doch mit ihrer Lage sind sie trotzdem überhaupt nicht zufrieden, und Hoffnung macht sie ihnen erst recht nicht.

Das ist auch der Grund, weshalb sie den Brief an mehrere Zeitungen geschrieben haben. Denn Annemarie und Kurt Döhrer fühlen sich in ihrer schönen Einrichtung eingesperrt. Trotz der beiden Zimmer mit eigenem Bad, die sie bewohnen, und trotz des guten Verhältnisses auch zu dem knappen Dutzend Mitbewohnern, mit denen sie sich zu jeder Mahlzeit treffen. Sie schreiben von einer entwürdigenden Situation und haftähnlichen Bedingungen, unter denen sie jetzt leben müssten. Und sie empfinden die öffentlich geübten »sentimentalen Mitleidsbekundungen an uns Risikogruppe« als Hohn.

Denn seit dem 13. März, als die Thüringer Verordnung über »Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2« in Kraft traten wie in allen anderen deutschen Bundesländern, seit diesem Tag fühlen sich die Döhrers eingesperrt. Auch wenn ihre Tochter sich kümmert und regelmäßig die rund 80 Kilometer von Fulda herüberkommt, um ihnen zu bringen, was sie brauchen. Und auch wenn der Kontakt zu den zwei Enkeln ungebrochen ist, wenn auch viel zu selten - natürlich. Selbst wenn Döhrers kein schlechtes Wort über ihre Senioreneinrichtung sagen können - eingesperrt fühlen sie sich dennoch. Selbst Strafgefangene seien ihnen gegenüber im Vorteil, meinen sie, denn die hätten regelmäßig Freigang und könnten jederzeit zum Friseur.

Annemarie und Kurt Döhrer leiden unter den Bewegungseinschränkungen und der Isolation, denen sie seit dem 13. März unterworfen sind. Bis dahin waren sie regelmäßig unterwegs und konnten wenigstens noch eingeschränkt über ihr Leben bestimmen. »Wir sind jeden Tag sechs bis zehn Kilometer gelaufen«, sagt Annemarie Döhrer. Schmalkalden ist ein idyllischer Ort in idyllischer Umgebung nahe dem Thüringer Wald. Und ihr Mann, der vor Kurzem einen Rollator erhalten hat, führt seine zunehmende Unsicherheit auch auf den Mangel an Bewegung zurück, zu dem sie nun verurteilt sind. Angeblich zu ihrem eigenen Nutzen.

Kurt Döhrer erkennt wegen des Grünen Stars, der ihn ereilt hat, immer weniger. Seine Frau verliert schon mal die Orientierung, was mit zunehmender Altersdemenz zu tun hat, wie sie selbst weiß. Das heißt aber nicht, dass die beiden nicht wüssten, was sie wollen und vor allem: was sie brauchen. »Wir sind nicht einverstanden mit diesen Maßnahmen, die uns belasten«, sagt Kurt Döhrer. »Wir sehen nicht ein, dass wir nicht hinaus können, wenn wir es wollen«, sagt Annemarie Döhrer.

Die beiden haben einst Außenhandel studiert, bekleideten in der DDR wichtige Posten in großen Betrieben, zuletzt im Werkzeugkombinat Schmalkalden. Sie sind Menschen, die sich kein X vor dem U vormachen lassen. Und als der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow Ende Mai die völlige Aufhebung der Beschränkungen im Bundesland ankündigte, wirkte das auf sie wie die Ankündigung einer Befreiung. Nun empfinden die Döhrers die als Rückzieher erlebte Relativierung durch Ramelow als Ergebnis einer bundesweiten Kampagne gegen diesen und für sich selbst als persönlichen Tiefschlag. Von den realen Lockerungen in Thüringen haben sie jedenfalls nichts.

Bundesweit gibt es rund 885 000 Menschen in insgesamt 11 488 Altenheimen und Pflegeeinrichtungen. Dass es sich hier nicht um eine unbedeutende Minderheit handelt, liegt allein dank dieser Größenordnung auf der Hand, abgesehen vom Respekt, den die Menschen verdient haben. Trotzdem werden die Senioren jetzt in der Coronazeit wie auch vorher kaum wahrgenommen außer in ihrer Rolle als gefährdete Gruppe - als Risikogruppe, wie es auch noch missverständlich heißt, denn ein Risiko geht von ihnen nicht aus.

Tatsächlich findet man auf den amtlichen Internetseiten der Behörden auf den ersten Blick zwar Informationen für Patienten, Kitas und Schulen oder für die Wirtschaft. Um Näheres über die Menschen in Alten- und Pflegeheimen zu erfahren, muss man auch auf der Seite der Thüringer Landesregierung lange suchen. Auch jene »Regelung für stationäre Pflegeeinrichtungen sowie besondere Wohnformen für Menschen mit Behinderung«, die das Landesgesundheitsministerium erlassen hat, beinhaltet Auflagen und Hinweise vor allem für die dort Beschäftigten. Der immerhin auftauchende Hinweis, dass deren Ängste wie der Pflegebedürftigen ernst zu nehmen seien, ist reichlich vage und wenig hilfreich.

Als notwendige Einschränkung zum Schutz der Gesundheit ist das Problem längst nicht ausreichend beschrieben, wenn Menschen über Monate in Isolierung gehalten werden. Man habe sie weggesperrt, sagt das Ehepaar Döhrer. Keiner habe sie gefragt. Damit wurde ein Problem gleich mit entsorgt, so scheint es. Dass dies alles tatsächlich zum Nutzen der Betroffenen selbst geschieht, macht die Sache so kompliziert. Denn nach wie vor sind es die Hochbetagten, denen das Coronavirus am gefährlichsten werden kann.

Die Betroffenen sind alt, verfügen aber wie junge Leute über alle bürgerlichen Rechte. Und das wissen sie, sofern sie nicht zu krank sind für ein eigenes Urteil. Stimmen wie die der Gesundheitsministerin Petra Grimm-Benne in Sachsen-Anhalt sind selten zu hören. Die SPD-Politikerin beklagte, in der Debatte über die Risikogruppe der Senioren werde oft vergessen, dass diese trotz Pflegebedürftigkeit ein Recht auf Selbstbestimmung und Freiheit haben.

»Auch wenn es im Alter aufgrund von Einschränkungen und Krankheit immer mehr pflegerischer Unterstützungsleistung bedarf, steht die Selbstbestimmung des Menschen an erster Stelle.« So bewertete der Deutsche Ethikrat die Prioritäten zwischen Schutz der Betroffenen und ihrer Freiheit. Das gelte auch in Coronazeiten. Dass hier ein gesellschaftliches Problem unterschätzt wird, das hinter dem Umgang mit den Alten und Pflegebedürftigen steht - man könnte es auch darin lesen, dass im jüngsten Konjunkturpaket der Bundesregierung die Pflegekräfte, deren schlechte Bezahlung ein wesentlicher Grund für die schlechte Personalausstattung in vielen Heimen ist, nichts abbekommen. Und besonders abstrus wird es, wenn Sterbenden in ihren letzten Stunden und Tagen die Begleitung durch ihre Angehörigen verwehrt wird. Angeblich zu ihrem Schutz. Dem Schutz wovor?

Auf den Einrichtungen liegt derzeit eine große Verantwortung. Sie sind dazu verdammt, die behördlichen Auflagen in ihre konkreten Verhältnisse zu übersetzen und die entsprechenden Bedingungen vor Ort zu schaffen. Kreativität hat ihre Grenzen, und die Möglichkeiten sind nicht überall gleich. Im Seniorenheim »Hoffnung« in Schmalkalden dürfen sich Besucher mit ihren Angehörigen eine Zeitlang in einen Gemeinschaftsraum zurückziehen. »Unsere Begegnungsstätte«, wie Einrichtungsleiterin Katja Krämer betont. 50 Quadratmeter groß und mit eigener Küche. Und im Garten könnten die Senioren sich die Füße vertreten. »Da gibt es auch keine Auflagen, wenn es mal ein bisschen länger dauert«, sagt Frau Krämer, der es ohnehin »unendlich leid« tut, was die Situation den alten Menschen jetzt abverlangt. Man tue alles, um ihnen die Situation erträglich zu machen. Aber gegen die Auflagen zu verstoßen, was für sie mit einer Strafe bis zu 3000 Euro bewehrt wäre, kommt natürlich auch nicht in Frage.

Den Döhrers reicht das aber nicht. Auf dem schmalen Grat zwischen Selbstbestimmung und notwendiger Fürsorge wollen sie Richtung Freiheit ausscheren. Man kann die Not verstehen. Nicht nur, wenn der Friseur zum letzten Mal am 6. März in die Einrichtung kam, und das eigene Aussehen inzwischen mit altersbedingt reduzierter Eitelkeit kollidiert. Sondern auch, weil die Fußpflege viele Wochen ausbleibt, zu der man selbst nicht mehr in der Lage ist und auch dem Personal entsprechende Handreichungen verboten sind.

Und die Not wird irgendwann zur veritablen Verzweiflung, wenn sich der Verstand gegen die verordneten Maßnahmen sträubt. Immer dann zum Beispiel, wenn die Döhrers sich täglich mehrmals mit ihren Nachbarn am großen Tisch zum Essen treffen - ohne Abstandsregel und sonstige Vorkehrungen. Was sie nicht missen möchten. Was aber ihren gesunden Menschenverstand strapaziert, da die Pflegekräfte, die sie dann bedienen, täglich im Haus ein- und ausgehen und das Virus dabei theoretisch mitbringen könnten.

»Wir leiden unter der Kontaktarmut, starkem Bewegungsmangel und Einsamkeit«, beklagen die Döhrers. Und sie befürchten, dass der jetzige Zustand der Bewegungsarmut Folgen für ihre Gesundheit hat und also auf ihre Lebenserwartung. Der fortschreitende Verlust bisheriger Fähigkeiten bereitet ihnen Sorgen. Und dass sie keine Möglichkeit für eine Rehabilitation erkennen. Angstvoll erlebe man die »angeordnete Freiheitsberaubung«, für Tausende auf unbestimmte Zeit und per Dekret erlassen. Die Döhrers sehen sich einer für sie nicht greifbaren Macht ausgeliefert: »So wissen wir nicht einmal, an wen wir uns in unserer Not wenden sollen.«

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