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Das Auf und Ab kapitalistischer Konkurrenz

Entkopplung der Finanzmärkte oder: die Spekulation und ihre Basis. Ein Vorabdruck

Der Markt beherrscht das ökonomische und weite Teile des gesellschaftlichen Lebens. Für ihn wird produziert, auf ihm wird konkurriert, er entscheidet über Erfolg oder Pleite. Doch gibt es einen Markt, von dem es heißt, er beherrsche alle anderen Märkte: den Finanzmarkt. Denn hier wird ein besonderes Gut gehandelt – Geld, oder genauer: Kapital. Fast alle Unternehmen brauchen es und holen es sich an »den Märkten«, indem sie Kredit nehmen, Aktien und Anleihen ausgeben. So tritt der Finanzmarkt dem Rest der Wirtschaft als Gesamtgläubiger gegenüber: Die Anleger sortieren Unternehmen und Staaten nach deren Kredit- und Kapitalwürdigkeit, sie bestimmen über Finanzierungskosten und damit darüber, welche Geschäfte eine Zukunft haben und welche nicht. Gleichzeitig vollziehen die »Produkte« des Finanzsektors an der Börse ihre eigenen Bewegungen, je nach Geschäftserwartungen steigen Papiere und stürzen ab. Diese Bewegung der Spekulation hat dem Finanzsektor den Ruf eingetragen, er habe sich von der sogenannten Realwirtschaft emanzipiert und sie sich gleichzeitig unterjocht, anstatt ihr zu dienen. Doch das ist nicht ganz korrekt. Realwirtschaft und Finanzmarkt sind sich ähnlicher, als viele denken.

Die Geschäfte der Finanzsphäre bestehen hauptsächlich aus Wetten auf die Erwartungen der Marktteilnehmer. Diese Welt der Spekulation ist heute viel größer als das, was gemeinhin »Realwirtschaft« genannt wird – also als die Sphäre, in der wirkliche Produkte und Dienstleistungen hergestellt werden. Und die Finanzwelt dehnt sich aus. Entsprach der Wert der weltweit an den Börsen notierten Aktien 1985 noch 17 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, waren es 1990 schon 55 Prozent, Ende 2018 rund 93 Prozent und angesichts der Kurssteigerungen Anfang 2020 wohl deutlich über 100 Prozent. Im Jahr 2019 stieg der Deutsche Aktienindex um ein Viertel, während die deutsche Wirtschaftsleistung um nicht einmal ein Prozent zunahm.

Dieses Auseinanderdriften beider Sphären bewegt viele dazu, sich mit dem Verhältnis von Finanzkapital und Realwirtschaft zu beschäftigen. Daraus resultiert Kritik am Finanzkapital. Im Wesentlichen wird darüber geklagt, dass der Finanzsektor sich von der Realwirtschaft entkoppelt habe, anstatt ihr zu dienen. »Finanzmärkte dienten ursprünglich der Finanzierung von Investitionen«, schreibt das politisch links verortete Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung, heute aber seien »die Finanzmärkte weitgehend zu einem Spekulations-, Spiel- und Wettkasino verkommen; die kapitalistische Wirtschaft ist größtenteils zum Kasino-Kapitalismus degeneriert«.

Zunächst einmal ist festzuhalten: »Real« an der Realwirtschaft sind nur ihre physischen Produkte und Dienstleistungen. Nicht ihre kapitalistische Substanz. Die besteht in dem Wert von diesen Produkten und Dienstleistungen beziehungsweise in dem Preis, den sie beim Verkauf erzielen oder mit dem sie in den Büchern stehen. Verkaufen sich diese Güter nicht oder sinkt ihr Preis, so verschwinden sie oder entwerten sich. Damit sinkt nicht nur ihr Wert, sondern auch der der Produktionsmittel. 1998 zum Beispiel kaufte der Autobauer Daimler den US-Konkurrenten Chrysler für rund 30 Milliarden Dollar und verkaufte Chrysler zehn Jahre später für 5 Milliarden Dollar – 25 Milliarden »Realkapital«, einfach verschwunden. Auch wenn Maschinen, Autos und Fabriken eines Unternehmens noch so solide und real erscheinen – ihr Wert ist abhängig davon, ob und inwieweit erwartet wird, dass sie Mittel des Profits sind. Nicht nur an der Börse zählen also Erwartungen. An den Finanzmärkten wiederum ist vielleicht vieles verrückt, aber nichts irreal. Wäre der dort gehandelte Reichtum irreal, wäre es auch kein Problem, wenn er zeitweise verschwindet.

Die Analogie mit dem Kasino hinkt ebenfalls – im Vergleich mit den Finanzmärkten erscheint ein Kasino geradezu bodenständig. Denn das Kasino ist eine reine Geld-Umverteilungsmaschine: Was der eine verliert, gewinnt der andere. 100 Euro sind dort immer 100 Euro, die Einsätze sind fixe Summen und können sich nicht vermehren. Daher gibt es am Roulette-Tisch auch keine allgemeine Hausse, die alle reicher macht, und keinen Crash, der Einsätze vernichtet und alle ärmer macht. Zudem sind die Eintrittswahrscheinlichkeiten beim Glücksspiel berechenbar: Bei einem Münzwurf ist die Chance immer 50:50. An der Börse dagegen entscheidet die Spekulation selbst, ob die Spekulation auf künftiges Wachstum aufgeht. Das ist keine Frage des Zufalls, sondern schlimmer: eine Frage des Auf und Abs kapitalistischer Konkurrenz.

Zeigt nun die Tatsache, dass Wertpapiere an der Börse ein Eigenleben führen und viel mehr wert sind als die Wirtschaftsleistung, dass das Finanzkapital sich von der Realwirtschaft entkoppelt hat? Es stimmt zwar, die Preise von Aktien und Anleihen basieren auf Erwartungen der Erwartungen, und das ist tatsächlich äußerst dehnbar. Zudem greifen hier Selbstverstärkungsmechanismen: Erwarten viele Anleger, dass ein Aktienkurs steigt, dann steigt er wirklich – die Erwartung wird Realität. Zudem machen steigende Kurse die Anleger real reicher, sie können ihre Papiere zu höheren Preisen verkaufen und mit dem Geld neue Papiere erwerben. Zusätzlich erhalten sie wegen ihres gewachsenen Vermögens auch höhere Kredite von den Banken. Der Börse geht im Aufschwung also nie das Geld aus, es gibt keine objektive, »reale« Grenze, kein festes Geldbudget, das den Kursanstieg irgendwie begrenzt. Diese Grenze führt die Spekulation selbst herbei, indem sie die Kurse fallen lässt. Und dann greift die andere Selbstverstärkung: Wird auf Crash spekuliert, sinken die Kurse tatsächlich, Vermögen verschwinden und viele werden ärmer. Wegen der dadurch entwerteten Sicherheiten streicht auch die Bank ihre Kredite und verlangt Rückzahlung. Das macht Notverkäufe von Aktien zur Kreditbedienung nötig, was den Abwärtstrend verstärkt.

Das Eigenleben der Märkte wird mit steigendem Spekulationsgrad – zum Beispiel bei Derivaten – immer eigener, scheinbar immer unabhängiger von der Realwirtschaft. Das ist zunächst kein Problem, denn die Realwirtschaft muss die weltweit kursierenden Finanzvermögen nicht »decken« und letztlich auch nicht einlösen: Die Masse des Anlagekapitals ist keine Anweisung auf produzierte Güter und Dienstleistungen. Die Investoren werden auch nicht irgendwann all ihre Anleihen, Aktien und Derivate verkaufen, um sich davon Anteile am Sozialprodukt in Form von Autos, Computern und Kuchen zu kaufen. Der Finanzsektor basiert darauf, dass er sich von allen Ansprüchen auf materielle Deckung der gehandelten Summen emanzipiert hat.

Diese Emanzipation hat aber eine Grenze, auch wenn diese äußerst biegsam ist. Denn für die Finanzmärkte besteht die Funktion der Realwirtschaft darin, dass sie permanent das Wachstum glaubhaft versprechen soll, auf das die Märkte getrennt von der Realwirtschaft spekulieren. Das beinhaltet aber, dass die Realwirtschaft irgendwann auch liefern muss. Selbst die wüsteste Spekulation, die den Unternehmen kein Geld bringt und kein Geld wegnimmt, hat die Realwirtschaft als Grundlage und bezieht sich auf sie. Eine gänzliche Emanzipation ist also nicht möglich, auch wenn die Akteure an den Finanzmärkten dies gerne sehen würden. Beide Sphären bleiben aneinander gekoppelt, wobei diese Kopplung eine extrem bewegliche Sache ist. Sicher ist nur eins: Geht ein Unternehmen unter, verschwindet seine Aktie, dann kann auch der Finanzmarkt nicht auf sie spekulieren, weil ihm das Entscheidende verloren gegangen ist – die Zukunft.

Über die Entkopplung der Finanzsphäre klagen häufig jene, die an eine Doppelfunktion des Finanzkapitals glauben beziehungsweise an einen Ursprung, an dem der Finanzsektor nur dafür da war, den Produzenten von Gütern und Dienstleistungen mit Kapital zur Seite zu stehen. Die Position, das Finanzkapital müsse Industrie und Handel dienen, ist in allen politischen Lagern verbreitet. Stellvertretend sei hier der Ökonom Stephan Schulmeister zitiert: »Finanzkapital kann […] auf zwei fundamental unterschiedliche Weisen eingesetzt werden, entweder als ›Mittel zum Zweck‹ der Finanzierung von Unternehmen oder als ›Mittel zum Selbstzweck‹, also für selbstreferenzielle Vermögensvermehrung. Im ersten Fall fungiert Finanzkapital als ›Diener‹ des Realkapitals: Die Rendite auf das Finanzkapital (Zinssatz oder Dividendenrendite) ist kleiner als die Profitrate des Realkapitals, denn der Rentier verleiht ja lediglich ein knappes Gut, der Unternehmer macht hingegen etwas draus […] Im zweiten Fall ›emanzipiert‹ sich das Finanzkapital von seiner ›dienenden‹ Rolle: Seine Besitzer (›Rentiers‹) versuchen, ihren Anteil am Sozialprodukt durch selbstreferenzielle Spekulation (losgelöst von der Finanzierung des Realkapitals) zu steigern.«

Angedeutet wird hier das Bild der profitgierigen Finanzmärkte und der guten Realwirtschaft, die es zu schützen gilt. Nun hat die Realwirtschaft keinen anderen Zweck als die Finanzwirtschaft. Maschinen, Fabrik, Arbeitsplätze, Güter – all dies sind für Industrie und Handel lediglich die Mittel, um einen Profit zu erzielen, der so hoch wie möglich sein soll. Nur weil sie den gleichen Zweck verfolgt wie das Finanzkapital, nimmt die Realwirtschaft Kredite auf und gibt Aktien aus, damit diese ihr »dienen«. Die Profitmaximierung ausschließlich im Fall des Finanzkapitals zu kritisieren und nicht schon bei der Realwirtschaft ist etwas widersprüchlich. Diese Kritik basiert auf der Vorstellung, dass es sich bei Maschinen, Anlagen, Gütern und anderem »Realkapital« nicht um materialisierte Profitansprüche handle, sondern um dauerhafte, nützliche Dinge, die eben der Zweck der Realwirtschaft seien, während das Finanzkapital bloß Profit wolle.

Daher, so die Argumentation weiter, müsse man die zu hohen Finanzmarktrenditen senken, um Investitionen in die Realwirtschaft zu lenken. Liege der Zins unter der Profitrate, so investierten mehr Kapitalisten in VW und andere Produktionsgeschäfte statt zum Beispiel in Derivate. Dies bringe eine steigende Beschäftigung und eine sinkende Ungleichheit mit sich. Liege der Zins auf Finanzgeschäfte hingegen über der Profitrate des Realkapitals, so seien Finanzanlagen für die Investoren attraktiver als »reale« Geschäfte. Der Finanzsektor blähe sich auf, dies bringe Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und Sozialabbau mit sich und erhöhe somit die Ungleichheit.

Arbeitslosigkeit, Prekarisierung, Ungleichheit – bloß ein Werk des Finanzkapitals? Nicht ganz. Da die Realwirtschaft ebenfalls nur für Profit arbeitet, zeigt eine steigende Arbeitslosigkeit lediglich, dass viele Jobs aus Sicht der Realwirtschaft für den Profit nicht taugen und daher abgebaut werden. Der daraus folgende Lohndruck, die Prekarisierung und die wachsende Ungleichheit sind nicht allein Werk des Finanzkapitals, auch wenn es – wie die Realwirtschaft – davon profitiert.

Und selbst wenn das Problem darin bestünde, dass wegen der hohen Finanzmarktrenditen alles Geld an die Börse flösse und für Investitionen in neues »Realkapital« daher nicht genug übrig bliebe: In einem Wirtschaftssystem, das auf Profitmaximierung basiert, ist es aus Sicht des Kapitals – auch des »Realkapitals« – gleichgültig, wohin es fließt, Hauptsache, die Rendite stimmt. Insofern ist die Aufblähung der Finanzmärkte nicht systemwidrig, sondern folgt dieser Logik. Dort kann Kapital flexibel investiert werden, man kann von Autoaktien zu Chemieaktien wechseln, von Immobilien zu Staatsanleihen, immer auf der Suche nach Rendite. Die Idee, derartige Geschäfte seien bloßer »Selbstzweck« und widersprächen dem »eigentlichen« Zweck des Kapitalismus – der Produktion von Gütern und Arbeitsplätzen –, beruht auf einer Idealisierung der Marktwirtschaft.

So ist also die Lage: Das globale Vermögen, die weltweiten »Ersparnisse« bestehen heute vor allem aus Einlagen bei Banken, aus Aktien, Immobilien und aus verzinslichen Investments wie Anleihen, Sparbriefen oder Lebensversicherungen. All dies sind nichts weiter als Zahlungsansprüche. Aktionäre wollen Dividenden, Sparer wollen Zinsen. Was Sparer auf ihren Konten, Anleger in ihren Anleihe-Depots, Aktionäre in ihren Portfolios und Banken in ihrer Bilanz als Vermögen verbuchen, das sind nichts anderes als Schulden anderer. »Sparen, statt Schulden zu machen« – diese Aufforderung ist daher eine falsche Gegenüberstellung. Wer sparen und daran verdienen will, der muss verleihen. Wer deutsche Staatsanleihen kauft, der kauft Schuldscheine des deutschen Staates. Wer spart, ist Gläubiger – und kein Gläubiger ohne Schuldner. Selbst was auf unseren Girokonten liegt, ist bloß eine Summe, die die Bank uns schuldet.

Die Vermögenswerte basieren darauf, dass sie per Zins, Dividende oder Miete bedient werden. Geschieht dies nicht oder kommen daran Zweifel auf, schwinden diese Werte dahin, sei es bei US-Hypothekenpapieren, bei Griechenland-Anleihen oder bei Häusern in bester Innenstadtlage. Der finanzielle Reichtum der Welt besteht also aus vorweggenommenen Renditen, die zwar erst in Zukunft anfallen, aber heute schon als Guthaben existieren. Man könnte es auch so ausdrücken: Als Wert gilt heute nicht das, was produziert worden ist, sondern das, was noch produziert werden soll. In der Weltwirtschaft herrscht heute also ein gewisses Maß an Irrsinn, der darin besteht, dass künftiges Wachstum bereits fertig vorliegt in Form von Vermögenswerten, die eine Spekulation auf dieses Wachstum sind, das niemals enden soll. Im Kapitalismus ist die Zukunft immer schon verpfändet, und diese Zukunft zeitigt große Folgen in der Gegenwart, da die erwarteten Erträge schon an den Börsen notiert sind.

Da das an den Finanzmärkten gehandelte und in Bilanzen verbuchte Vermögen auf Erwartungen beruht, können sich Milliardensummen einfach in Luft auflösen. Daher hängen Unternehmen, Staaten und ganze Währungsräume heute an dem, was allgemein »Vertrauen der Märkte« genannt wird. Doch das Finanzvermögen ist damit nicht bloß eine hoffnungsfrohe Erwartung. Es ist ein Anspruch. Ein Anspruch an den Rest der Welt, die erwarteten Renditen zu erwirtschaften und damit die als Weltfinanzvermögen vorliegenden billionenschweren Erwartungen in ihrem »Wert« zu bestätigen.

Im Kapitalismus fungiert der Reichtum als permanenter Zwang, ihn zu vermehren. Davon profitieren die Eigentümer. Die große Mehrheit dagegen haftet als Arbeitnehmer, Mieter oder Bürger letztlich dafür, dass die kombinierten Ansprüche von Unternehmen und Anlegern aufgehen. Als Arbeitnehmer müssen sie ihren Arbeitgebern einen Gewinn einbringen, als Mieter ihren Grundeigentümern die Miete und als Bürger ihren Regierungen die Steuern. Aus dieser Sicht mag die wiederkehrende Warnung beunruhigend sein, die Welt habe zu viele Schulden. Denn dies ist gleichbedeutend mit der Warnung, es existierten global zu viele Finanzvermögen mit dem Anspruch der Verwertung. Und die gerät ebenso regelmäßig wie notwendig in die Krise.

Vorabdruck aus: Stephan Kaufmann und Antonella Muzzupappa Crash Kurs Krise. Wie die Finanzmärkte funktionieren. Eine kritische Einführung. Bertz & Fischer, Berlin, 2020. Ca. 120 Seiten. 8 Euro. ISBN 978-3-86505-756-3. Erscheint im Juni 2020.

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