Die Mutter aller Kräuter

Zur Pflanzengattung Artemisia gehören verschiedene Beifußarten, auf die große Hoffnungen gesetzt werden

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 5 Min.

Beifuß begleitet die Menschheit schon durch viele Jahrtausende als Heilkraut oder zur Abwehr von Geistern. Anwendungen gab es unzählige, im 11. Jahrhundert etwa die Behandlung von Frauenkrankheiten, außerdem die Therapie von Verdauungsbeschwerden oder Harnstau. Schon damals wurde die Pflanze als »Mutter aller Kräuter« bezeichnet. Verschiedene Beifußarten und auch das Wermutkraut gehören zur Gattung Artemisia, die zur Familie der Korbblütler zählt.

Zu neuem Ruhm könnte jetzt Artemisia annua kommen. Der Einjährige Beifuß ist nicht zu verwechseln mit dem hiesigen Unkraut, dem Gemeinen Beifuß (Artemisia vulgaris), das seinen Nutzen unter anderem heute noch als Beigabe zur Weihnachtsgans zeigt. Ursprünglich kommt Artemisia annua aus den Steppen Asiens, seine Vorgeschichte als Heilkraut reicht in der traditionellen chinesischen Medizin 2000 Jahre zurück. Bewährt hat es sich unter anderem bei fiebrigen Erkältungskrankheiten. Beifußfasern werden auch zur Moxibustion verwendet - dabei verglimmen kleine Mengen des Krauts auf oder über bestimmten Therapiepunkten, analog zur Akupunktur. Die so erzeugte Hitze soll den Energiefluss im Körper anregen und so zur Heilung beitragen.

Artemisinin, eine medizinisch wirksame Komponente der Pflanze, wurde 1972 erstmals aus dem Einjährigen Beifuß gewonnen. Das gelang der chinesischen Wissenschaftlerin Tu Youyou, die in den folgenden Jahrzehnten die Wirksamkeit dieses Pflanzenstoffes gegen Malaria nachwies. Dafür wurde sie 2015 mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt. Inzwischen sind entsprechende Medikamente jährlich bei 100 Millionen Patienten im Einsatz. Der einjährige Beifuß wird weltweit großflächig angebaut, etwa in China, Vietnam und in Ostafrika, darunter auch in Madagaskar.

Der Wirkmechanismus ist nicht abschließend geklärt. Es wird aber vermutet, dass Artemisinin in Gegenwart von Eisenionen freie Radikale bildet, die dann vermutlich in den befallenen roten Blutkörperchen (Ery-throzyten) den Malariaerreger angreifen. Ein großer Vorteil der darauf basierenden Medikamente sind die kaum vorhandenen Nebenwirkungen, womit die Mittel auch für Kinder geeignet sind. Unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Tropenmedizin empfiehlt gegen Malaria eine Kombitherapie, die Artemisinin enthält.

Jetzt könnte der Einjährige Beifuß neue Bedeutung als Basis für ein Medikament gegen Sars-CoV-2 gewinnen. Die Idee dafür ist nicht ganz neu: Chinesische Wissenschaftler hatten bereits 2005 publiziert, dass Artemisinin auch gegen Sars-CoV-1 wirksam ist. Diese Form des Coronavirus verursachte schwere atypische Lungenentzündungen, an denen 2002/03 800 Menschen starben.

Forscher in Deutschland und den USA nahmen die Idee in diesem Frühjahr auf. Federführend dabei ist der Chemiker Peter Seeberger von Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam. Dort wird auch zu Biomaterialien gearbeitet. Seeberger gelang es vor einigen Jahren, Artemisinin synthetisch herzustellen. Seit Anfang März befasst er sich mit reinen und alkoholischen Extrakten von Artemisia annua, und zwar von verschiedenen Arten und Varietäten der Pflanze. Eine spezielle Zuchtform mit hohem Artemisiningehalt wird in den USA angebaut. Die reinen Substanzen sind nach Aussagen Seebergers nicht giftig und hätten sich im Laborversuch wirksam gegen Sars-CoV-2 gezeigt. Durchgeführt wurden diese Experimente in Hochsicherheitslaboren, darunter eines an der Berliner Freien Universität. Als Zwischenergebnis zeigte sich, dass die Blätter der in Kentucky gezüchteten Artemisia annua bei Extraktion mit Ethanol oder destilliertem Wasser die beste antivirale Aktivität aufwiesen. Diese erhöhte sich noch, wenn Kaffee hinzugegeben wurde. Artemisinin allein zeigte sich hingegen nur wenig wirksam gegen die Viren.

Inzwischen laufen in Kentucky die ersten Studien der Phasen 1 und 2 mit zunächst wenigen Patienten, um Verträglichkeit und Sicherheit des Medikaments, hier eines Derivats von Artemisinin, zu erforschen. Ausgewählt wurden dafür Menschen, die sich mit noch leichten Covid-19-Symptomen im Krankenhaus befinden, in der Hoffnung, hier schwere Verläufe zu verhindern. Zudem sollen am medizinischen Zentrum der University of Kentucky Studien zu Tee und Kaffee mit Artemisia annua beginnen.

Seeberger machte bei der Vorstellung seiner neuesten Forschungsergebnisse keinen Hehl daraus, dass er an einer Firma »ArtemiLife« beteiligt ist, die in den USA Nahrungsergänzungsmittel auf Basis von Artemisia annua vertreibt. Gleichzeitig warnte der Chemiker vor der Einnahme von Artemisia-Tees oder Extrakten im Zusammenhang mit Covid-19.

Wenn die jetzt gestarteten und weitere Studien erfolgreich verlaufen, könnte sich das als Vorteil für die Behandlung von Patienten in ärmeren Ländern erweisen. Denn die Extrakte sind durch die Verwendung gegen Malaria bereits in großen Mengen und günstig verfügbar.

Unabhängig davon könnten sich Beifußextrakte bereits in besonderen Kräutertees befinden, die sich in Afrika großer Beliebtheit erfreuen und dort auch gegen Covid-19 angepriesen werden. Von diesen Wundertees weiß aber bisher niemand, was wirklich darin enthalten ist. Der beste soll aus Madagaskar stammen, wird Covid Organics genannt und auch von Andry Rajoelina, dem Präsidenten des Inselstaates, propagiert. Sicher scheint bei diesem Kräutermix, dass auch Artemisia-annua-Bestandteile enthalten sind. Obwohl sich Wissenschaftler dagegen aussprachen, die Getränke ohne klinische Tests einzusetzen, ließen sich die Staatschefs verschiedener afrikanischer Länder bereits größere Mengen der Medizin aus Madagaskar einfliegen. Bestellungen soll es beispielsweise aus Tansania, Togo und Tschad, Nigeria und Guinea-Bissau geben. Es wird nun befürchtet, dass die vergleichsweise geringe Wirkstoffkonzentration an Artemisinin in Tees und Kräutermischungen bei Anwendung in den Malariagebieten zu Resistenzen beim Erreger Plasmodium falciparum führen könnte.

2016 wurde zudem bekannt, dass Zubereitungen aus Artemisia annua oder Artemisinin-Derivate unter anderem in Tierversuchen, im palliativen Einsatz und in klinischen Studien bei krebskranken Menschen eine bemerkenswerte Antitumorwirkung zeigten. Langzeitstudien fehlen bisher. Bei Studien zu Dickdarmkrebs sollten Patienten in London und Hanoi ebenfalls diese Derivate erhalten; die Ergebnisse stehen hier noch aus. In einer kleinen Gruppe von Patienten mit diesem Tumor konnte bereits eine Lebenszeitverlängerung beobachtet werden.

In Afrika wächst zudem eine weitere Beifußart, Artemisia afra. Heiler wenden sie traditionell an, in der Bevölkerung ist sie bekannt und beliebt. Genutzt wird auch diese Variante gegen Erkältungskrankheiten, etwa als Tee. Sie enthält kein Artemisinin. Eine erfolgreiche Studie mit 1000 Malariapatienten aus der Demokratischen Republik Kongo mit einem Tee aus Artemisia afra hatte im Vergleich mit modernen Medikamenten deutlich bessere Ergebnisse gebracht, unter anderem in Bezug auf die Schnelligkeit der Fiebersenkung oder das Verschwinden des Malariaerregers aus dem Blut.

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