Eine friedliche EU ist nicht »naiv«

Kolumne

  • Özlem Alev Demirel
  • Lesedauer: 3 Min.

Angesichts einer neuen Weltlage gäbe es für Europa keine andere Alternative, als die tugendhafte »Soft Power« um eine »Hard Power« zu ergänzen, denn es sei an der Zeit, dass Europa seine Weltsicht und Interessen durchsetze. Die aktuelle Krise rücke mit Nachdruck die zentrale Frage der »europäischen Autonomie« und »Souveränität« sowie ihre Stellung als geopolitischer Akteur in den Fokus, insbesondere auch angesichts der wachsenden Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China. So schreibt nicht irgendwer - sondern der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell und EU-Industriekommissar Thierry Breton in einem Gastbeitrag für die »Welt« vom 10.06.

Borrell und Breton möchten möglichst schnell den langersehnten Militarisierungsprozess auf EU-Ebene voranbringen und suchen Gründe, warum jetzt erstmalig Milliardenbeträge für Militarisierungsprojekte und Kriegsgerät im EU-Haushalt zur Verfügung gestellt werden sollen. Interessant ist, dass sie zur Begründung nun die Corona-Pandemie und eine veränderte Weltlage strapazieren. Denn neu sind all diese Vorhaben und Pläne nicht. Nach dem Beschluss zum Austritt Großbritanniens aus der EU nutzten Deutschland und Frankreich die sich ergebende Chance zum weiteren Ausbau der »militärischen Kooperation« in der EU.

Nach und nach wurden auch die Stimmen lauter, die nach einer sogenannten Verteidigungsunion riefen. Da gar kein Staat der Welt die EU militärisch unmittelbar bedroht, stellt sich die Frage, wer wenn vor was verteidigen soll. Die Antwort findet sich in der »Global Strategy«, die von Borrells Amtsvorgängerin Federica Mogherini veröffentlicht wurde. Die »Verteidigung«, genauer: Die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen und die Erschließung wichtiger Handelsrouten, zur Not auch militärisch, ist Ziel dieser Strategie. Eine globale maritime Sicherheit, die geschützte Ozean- und Seewege gewährleisten soll, weil diese für den Handel und den Zugang zu natürlichen Ressourcen entscheidend sei, so heißt es in dem Papier.

Nun sollen die nächsten Vorhaben folgen und erstmalig ganz offen auch im europäischen mehrjährigen Finanzrahmen verankert werden. Laut dem aktuellen Ratsbeschluss vom Juli 2020 soll der Europäische Verteidigungsfonds (rund 7 Mrd. Euro) dazu dienen, die Erforschung und Beschaffung von großem, auf europäischer Ebene hergestelltem Kriegsgerät besser fördern zu können. Zudem sollen Milliarden zur Verfügung gestellt werden für auch militärisch nutzbare Weltraumprogramme (13,2 Mrd. Euro) sowie für Infrastrukturmaßnahmen, die die Verlegbarkeit von Kriegsgerät erleichtern sollen (1,5 Mrd. Euro).

Gewiss hat sich die Weltlage in den vergangenen 30 Jahren verändert. Die Widersprüche der »alten Welt« mit ihren »Freundschaften« treten immer offener zutage, alle wollen ihr Stück am Kuchen vergrößern und neue aufstrebende Mächte wie China sitzen bereits am Tisch. Doch die bisherige Verfasstheit der EU sowie ihre ursprünglichen Vereinbarungen stehen noch im Weg, um dort, wo wirtschaftliche Stärke nicht ausreicht, auch militärisch geostrategische und ökonomische Interessen durchzusetzen. Dass Borrell, Breton und auch Kommissionspräsidentin von der Leyen die militärischen Optionen der EU so offensiv bewerben, ist erschreckend. Man darf ihre Strategie auch nicht derart verharmlosen, dass es ihnen bei der europäischen Militarisierungspolitik um eine Schwächung nationaler Rüstungsbestrebungen ginge. Es geht um massive Aufrüstung, um die Verteidigung und den Ausbau einer führenden Rolle der EU auf dem Weltmarkt. Marktanteile und Absatzmärkte sind dort entscheidend. Auf dem Weltmarkt wird gekämpft, und zwar mit allen Bandagen: mit Subventionen, Zöllen, Handelsbarrieren, Handelskriegen, und der Änderung von Lieferketten.

Dass aus Handelskriegen auch echte Kriege entstehen können, ist eine historische Erfahrung. Menschen, denen diese Erfahrung als schmerzhaft gilt, wurde die EU immer wieder als Friedensprojekt angepriesen. Für Breton und Borrell ist das die »Soft Power«, das »naive Europa«, dem sie nun ganz offensiv die Vision einer militärisch agierenden EU entgegensetzen. Neu ist daran nichts, gefährlich alles.

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