Das Schicksal ist ihm egal

Plattenbau

  • Jens Buchholz
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Schicksal hat es eigentlich nicht vorgesehen, dass einer wie der ehemalige Pulp-Sänger Jarvis Cocker zum Popstar wird. Aber Cocker gehört zu den Typen, denen das Schicksal egal ist. Seit den frühen 80ern trieb er sich mit seiner Band im britischen Musikbusiness herum, ohne nennenswert Aufmerksamkeit zu erregen. Pulp war eine Band, der man bestenfalls das Prädikat »originell« zugestehen konnte. Sie kultivierte eine Art Sheffield-in-den-70ern-Retro-Stil. Langatmige Songs, die merkwürdige Geschichten erzählten.

Andere Bands hätten aufgegeben. Pulp war zäh. Und dann, plötzlich, in den 90ern, schien es, als hätte die Welt die ganze Zeit nur auf diese Band gewartet. Mit dem Album »A Different Class« und den Singles »Common People« und »Disco 2000« wurden Pulp zur intellektuellen Speerspitze des Britpop. Und Jarvis Cocker wurde zur britischen Institution. Das nahm er huldvoll hin. Er hatte es erwartet, Schicksal hin oder her. Kurz darauf leitete die Band mit neuer merkwürdiger Musik ihre Selbstdestruktion ein. Das Schicksal schlug zurück. »Als sich Pulp 2002 schließlich auflösten, wirkte es fast so, als könne sich kaum noch jemand an sie erinnern«, schreibt der Autor und Pulp-Kenner Owen Hatherley in seinem Buch »These Glory Days«. Aber: »Jarvis Cocker überdauerte als nationales Kulturgut.«

Dieses Jahr wird er 57 Jahre alt. Und er ist wieder da. Schlaksig und mit Fernsehmattscheibenbrille wie eh und je. Im Hintergrund eine Band mit einer Frau am Retro-Keyboard. Aber es ist nicht Pulp, sondern eine Band namens Jarv Is. Ein Name, der wenig Zweifel aufkommen lässt, wer der Chef der Band ist.

Als die Gruppe 2017 gegründet wurde, trat sie mit einem ambitionierten künstlerischen Konzept an. Sie wollte den Komponisten zum Verschwinden bringen. So wie Roland Barthes und Michel Foucault einst zeigen wollten, dass ein Text nicht allein vom Autor hervorgebracht wird. Ein Text, erklärten sie, beruht immer auf dem, was andere Autoren vorher geschrieben haben, und auf dem, wie die Leser ihn verstehen. So ähnlich stellen sich Jarv Is die Musikproduktion vor. Die Songs wurden bei Live-Auftritten gemeinsam mit dem Publikum entwickelt. Die Grenzen zwischen Hörer und Musiker sollten aufgelöst werden. Die Aufnahmen dieser Publikumssessions nahm die Band mit ins Studio und entwickelte sie dort zu fertigen Songs weiter. Entsprechend hochtrabend klingt der Albumtitel: »Beyond the Pale«.

»Jarv Is an experiment«, heißt es im Bandmanifest. Und das hört man den Songs an. Cocker hat zum Glück exzellente Musiker und Musikerinnen an seiner Seite. Aber man merkt, dass die Songs in langen Sessions entwickelt wurden. Manchmal wirken sie wie ein Auszug aus etwas viel Längerem. Beispielsweise der Opener »Save the Whale«, der etwas langatmig vor sich hintuckert. So auch das Stück »Must I Evolve«, das aber wegen des schönen Textes Spaß macht und nach einer Weile auch musikalisch richtig Fahrt aufnimmt. »House Music All Night Long« schreit geradezu: Ich bin der Hit! Und wenn es sich in seiner ganzen Pulp-haftigkeit entfaltet, fühlt man sich auf der Platte so richtig angekommen. Großartig ist der Kontrast, wenn auf »Must I Evolve« oder »Children of the Echo« Serafina Steer und Emma Smith mitsingen. Der geradlinige Bass von Andrew McKinney gibt den oft etwas zu verspielten Arrangements den nötigen Drive. »Beyond the Pale« ist ein Latebloomer. Die Songs fordern den Hörer heraus und brauchen mehrmaliges Hören, bevor sie in ihrer ganzen Pracht erblühen. Aber dann blühen sie.

Jarv Is: »Beyond the Pale« (Rough Trade)

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