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Der Unvergessliche

Manche sagen, Oscar Peterson war der größte Jazzpianist aller Zeiten, andere nannten ihn den »Maharadscha der Tasten«, stets im Kampf gegen alltäglichen Rassismus

  • Michael Götting
  • Lesedauer: 7 Min.

Zu den wenigen Regeln, die es bei uns zu Hause gab, gehörte das gemeinsame Sonntagsfrühstück. Wenn ich nicht rechtzeitig aufwachte, wurde ich meistens mit lauter, klassischer Musik, die vom Plattenspieler kam, geweckt und bewegte mich dann widerwillig hinüber ins Esszimmer. Diesen einen Sonntagmorgen, an dem ich mal nicht mit Klassik, sondern Jazz erwachte, werde ich wohl nie vergessen: Jemand spielte am Klavier mit unglaublicher Geschwindigkeit eine einfache Melodie. Ein Kontrabass erdete die Leichtigkeit des Pianos mit zurückhaltender Beständigkeit und der Schlagzeuger bepinselte Snare und Hi-Hat und schob den Groove mit der Bassdrum lässig voran.

Ich war mit einem Mal hellwach, ging hinüber ins Esszimmer, geradewegs zum Plattenspieler und las die Schrift auf der kreisenden Scheibe: »The Oscar Peterson Trio«. Darüber der Titel des Albums in großen Buchstaben: »We Get Requests«. Mein Einstieg in die Welt des Jazz war Oscar Peterson, der am kommenden Samstag vor 95 Jahren geboren wurde.

Manche sagen, Peterson sei der größte Jazzpianist aller Zeiten, andere sind etwas bescheidener und bezeichnen ihn als einen der Größten des Jazz am Piano. Peterson erhielt sieben Grammy Awards, wurde mit dem Order of Canada ausgezeichnet und in die Hall of Fame Kanadas aufgenommen. Es gab zwei Auszeichnungen für sein Lebenswerk und in der kanadischen Hauptstadt Ottawa steht seit 2010 eine Oscar-Peterson-Statue (und so könnte man noch eine Weile mit der Aufzählung seiner Auszeichnungen fortfahren). Duke Ellington nannte Peterson, diesen riesigen, wohlbeleibten Schwarzen, der seine Soli mit unentwegtem Brummen begleitete, den »Maharadscha der Tasten«.

Ich wusste, dass es irgendwo im Plattenregal meiner Eltern ein Album von Miles Davis gab, hatte mich aber nie weiter umgesehen, weil ich dort sonst nur Klassik und ein paar Platten von den Beatles vermutete (was wohl berechtigt war). Zu finden, was Menschen afrikanischer Herkunft so hervorgebracht hatten, war ja nicht immer leicht, man musste sich das erarbeiten. Das galt nicht nur für das Plattenregal in meinem Elternhaus. Musik war ein guter Einstieg und Oscar Peterson hatte mit seiner Version von Antônio Carlos Jobims »Quiet Nights of Quiet Stars (Corcovado)« meine Neugier so richtig geweckt. Ein Mix aus Bossa Nova, Swing und Chopin, doppelt so schnell gespielt wie Jobims Original.

Ich schob extracurriculare Lerneinheiten in den Secondhand-Läden der Stadt. Plattencover sichten, Namen von Musiker*innen, mit denen Peterson gespielt hatte auswendig lernen, sich die Titel der Jazzstandards merken und wer sie wann und in welcher Besetzung interpretiert hatte, schließlich dann den Sound einzelner Musiker im Ohr behalten und den nerdigen Besitzern der Plattenläden zuhören, wenn sie ihr Jazzwissen durchdeklinierten. Alles, was heute die Algorithmen von Youtube, Spotify und Co. übernehmen, musste man damals selbst machen.

Plattencover analysieren, um daraus auf den Sound eines Albums schließen zu können, gehörte auch dazu: Drei Schwarze, alle in Smoking gekleidet, weißes Hemd, schwarze Fliege, auf einer Bühne, die nach hinten von einem braunen Vorhang begrenzt wird, der nach Schulaula aussieht. Oscar Peterson, ganz rechts, stehend, vor dem Flügel, Ray Brown mit seinem Kontrabass in der Mitte und links Ed Thigpen an den Drums, das Oscar Peterson Trio. Alle drei lachen. Peterson scheint neben dem Flügel zu tanzen, während Brown und Thigpen ihre Instrumente spielen. An Frisuren und Kleidung der vier, fünf Zuschauer*innen, die im Vordergrund von hinten zu sehen sind, lässt sich wohl die Zeit am besten ablesen: Die 1960er Jahre, genauer gesagt, die 1960er vor 1968 - als sie noch konservativ waren und nach 50ern aussahen und nach 50ern klangen. Die Zeit, in der die Songs von Jobim durch Stan Getz und Joao Gilberto weltbekannt werden. Auf »We Get Requests« ist außer »Quiet Nights of Quiet Stars« noch ein weiterer Jobim-Titel, bei dem alle Secondhand-Platten-Nerds das Gesicht verzogen: »The Girl from Ipanema« (Fahrstuhl-Musik, meinten sie, ganz grauenhaft!).

Der Name der Band und der Titel des Albums in weißen Lettern auf dem etwas braunstichigen Foto des Covers. Unten rechts das Logo des Labels bei dem die Platte rauskam. Ein Name, den man sich schnell eingeprägte, wenn man sich ein wenig mit Jazz beschäftigte: Verve!

Die Nerds in den Schallplattenläden (die damals noch nicht Nerds hießen, sondern einfach Secondhand-Schallplattenladen-Besitzer*innen oder kurzgesagt der Typ vom Plattenladen) tranken Kaffee aus klebrigen Tassen und zogen ständig weiße Inlays aus Plattenhüllen heraus:

»Was weißtn eigentlich über Verve?«, frage ich.

»Norman Granz?«

»Nee, Verve?«

Der Nerd gibt mir einen kurzen Einblick in das ABC des Jazz: Norman Granz gründet Mitte der 1950er Jahre Verve Records, entdeckt Oscar Peterson bei einer Reise nach Montreal - »ach ja, kennst du die Story von Granz, der schon auf dem Weg zum Flughafen ist und den Live-Mitschnitt eines Peterson-Konzerts im Taxi hört, dem Taxifahrer sagt, er solle sofort umdrehen und ihn zu dem Club fahren, in dem Peterson spielt?«

Granz verpasst natürlich seinen Flieger, holt Peterson nach New York, und von da an spielt er in einer Liga mit Ella Fitzgerald, Count Basie, Duke Ellington und so ziemlich allen Jazzgrößen der Zeit, wie es halt so ist, wenn man bei Verve unter Vertrag steht. Das legendäre Album »Getz/Gilberto« mit dem Jobims Songs und ihr brasilianischer Jazzgroove weltberühmt werden, erscheint nur wenige Monate vor Petersons »We Get Requests« - natürlich auch bei Verve.

»We Get Requests« erschien 1964, einige Monate nachdem Präsident Lyndon B. Johnson den Civil Rights Act unterschrieben hatte, der die Segregation in den USA gesetzlich beendete. Nur wenige Tage, bevor Peterson, Brown und Thigpen das Album aufnahmen, war Martin Luther King Jr. in Berlin und hielt die Eröffnungsrede der gerade erst gegründeten Berliner Jazztage. Er sagte, die Civil-Rights-Bewegung habe einen guten Teil ihrer Kraft aus dem Jazz bezogen. Petersons Biografie scheint Kings Worte zu belegen. Auch ihm bleibt nicht erspart, was allen anderen Jazzmusikern seiner Zeit widerfährt: er erlebt die Konsequenzen der Segregation. Es bedeutet, dass die Stars des Abends den Club durch den Hintereingang betreten, es bedeutet, dass Schwarze und Weiße aus der selben Band nicht im selben Hotel wohnen können, es bedeutet Bedrohung und Ärger. Peterson und seine Musikkolleg*innen begegnen der Segregation täglich, sie überwinden sie täglich, finden Wege, trotzdem zu kreativ zu sein, zu reisen, in Clubs aufzutreten, Musik aufzunehmen - und damit auch nach seinem Tod im Jahr 2007 der Nachwelt die Möglichkeit zu geben, über sein Werk und seine Biografie Zugang zur Mannigfaltigkeit einer afrodiasporischen Welt zu erhalten, die seit dem 20. Jahrhundert beständiger Impulsgeber einer sich zunehmend globalisierenden Kultur ist.

Oscar Peterson wächst in Montreal, im französischsprachigen Teil Kanadas auf. Seine Familie stammt aus der Karibik. Er lernt von seiner Schwester Klavier spielen und wird so schnell so gut, dass er bereits mit 14 Jahren seine eigene Radioshow bekommt. Etwa zehn Jahre später, als Norman Granz ihn in die US-Jazzszene einführt, fällt Peterson nicht nur durch seinen melodischen Sound, sein Hochgeschwindigkeitsspiel und seine unverkennbare Phrasierung auf, sondern auch durch seine kanadisch-karibische Herkunft. In mehr als 60 Jahren professioneller Musikerkarriere gibt er tausende Konzerte und nimmt mehr als 200 Alben auf (»We Get Requests« ist eins von fünf Alben, die er allein im Jahr 1964 herausbringt und sein letztes für Verve). Er spielt auch nach einem Schlaganfall, den er während eines Konzerts im Blue Note Club in den 1990ern erlitt, weiter.

Peterson ist es gelungen, ein Publikum über die üblichen Jazzophilen hinaus zu erreichen. Wer ihn einmal gehört hat, vergisst ihn nicht mehr! Wer sich entlang der Jazz-Algorithmen weiterbewegt, findet das Werk eines unermüdlichen Konzertanten und Komponisten, der die Verbindungslinien von Jazz, Klassik und Blues auf der ganzen Welt hörbar macht und die Türen zur afrodiasporischen Kultur und Geschichte weit öffnet.

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