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Am letzten Ende der Nahrungskette

Von Tönnies und Träumen: Der Dokumentarfilm »Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit« hatte in Berlin Premiere. Er zeigt die Fleischbranche, ohne plumpes Lehrstück zu sein.

  • Maximilian Schäffer
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer gerne Schnitzel und Zervelatwurst isst, hatte es höchstwahrscheinlich schon einmal zwischen den Zähnen: Fleisch aus Deutschlands größtem Schlachtbetrieb nach Umsatz (6,65 Mrd. Euro im Jahr 2019) und Mitarbeiterzahl (um die 9000) - der Tönnies Holding ApS & Co. KG in Rheda-Wiedbrück bei Gütersloh. Lustig glubschen die Firmenmaskottchen, ein quietschfideles Schwein und zwei frischverliebte Rinder, vom Dach der Haupthalle. Was genau hinter den Mauern geschieht, erfahren nur Eingeweihte: Polen, Rumänen und Bulgaren, die unter fragwürdigsten Bedingungen am Fließband Kadaver zerteilen, sowie deren Aufpasser, Einweiser und Gängler, die im Namen von Clemens Tönnies und Teilhabern Profite maximieren, damit ein Kilo Antibiotikabraten unter 3 Euro kostet. Im Juni gab es dort eine Masseninfektion mit Covid-19, seitdem gelten Konzern und Führung als Teufelswerk innerhalb der ansonsten doch so freundlichen sogenannten sozialen Marktwirtschaft. Zurecht fühlen sich Großkapitalist Tönnies und Komplizen deswegen ungerecht behandelt - denn als Ausbeuter, Rechtsbeuger, Unmoralisten ließen sich alle anderen Cliquen dieses Systems ebenso gut bezeichnen.

Yulia Lokshina, Regisseurin und Absolventin der Hochschule für Fernsehen und Film München, hat mit ihrem Abschlusswerk »Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit« einen Dokumentarfilm über die Verhältnisse in der Bundesrepublik angefertigt. Dass ausgerechnet die Firma Tönnies dabei im Vordergrund stand, ist ein umso glücklicherer Zufall der Geschichte, weil es ihren wichtigen Beitrag zur fundamentalen Kritik der Produktionsverhältnisse in ein viel größeres öffentliches Licht rückt. Zum Wirbelwind dieser Tage muss erwähnt werden: Ministerpräsident Armin Laschets CDU erhielt in den Jahren 2002 bis 2017 insgesamt 158 474 Euro Parteispenden von Tönnies Holding. Wer als Politiker Empörung und Aktionismus über eine großflächige Ansteckungswelle sät, kommt um diesen Film nicht herum und muss zur Kenntnis nehmen, in welch asoziale Verhältnisse »legale« Lohnarbeit in Nordrhein-Westfalen die Betroffenen bringt.

Beispiele für unerträgliche Arbeits- und Lebenssituationen führt Lokshina zu Genüge auf: Angefangen bei Subunternehmern, die den Leiharbeitern zu überhöhten Mieten Schlafplätze in offensichtlich überfüllten Gemeinschaftsunterkünften aufzwingen. 27 Menschen pro Wohnung sind laut einem Aktivisten keine Seltenheit, Freizeit und Privatsphäre dort logischerweise nonexistent. Andere Leiharbeiter nisten sich mehr oder weniger geduldet in Kleingartenanlagen ein, simulieren sich dort, ohne Schutz vor Diebstahl, Brand und Winterkälte eine weniger elende Existenz. Auf seine Arbeit in der Fleischindustrie zurückblickend konstatiert ein Litauer: »Dort bist du wertlos, machst die Dreckarbeit. Nichts anderes als ein weißer Nigger.« Anschließend zieht er über die her, die mit ihm im selben Boot sitzen: die Bulgaren seien »diebische Zigeuner«, behauptet er. Am letzten Ende der Nahrungskette möchte sich niemand sehen.

Michaela, eine weitere Protagonistin im Film, arbeitete ebenso für einen Subunternehmer in der Fleischfabrik. Als die Frau aus Rumänien ihre Schwangerschaft bemerkte, hatte sie Angst, ihren Arbeitsplatz und damit auch ihren Aufenthaltstitel in Deutschland zu verlieren. Die Geburt ihres Kindes erlebte sie wie einen Fall von unterlassener Hilfeleistung bei Inkontinenz. Schmerzerfüllt und entwürdigt entband Michaela ihr Baby notgedrungen in einer Garage der Neubausiedlung von Gütersloh. In völliger Agonie steckte sie den Säugling in eine Plastiktüte, legte ihn am Mediamarkt-Parkplatz ins Gebüsch. Vor der Staatsanwaltschaft Bielefeld musste sich sich dafür verantworten, man verurteilte sie zu einer Haftstrafe. »Bei der Geburt soll außerdem ein Gefühlssturm dazugekommen und das Handeln der Frau beeinflusst haben«, sagte ihr Rechtsanwalt Knut Recksiek. Er wies auch darauf hin, dass die Arbeit der Frau bei Tönnies für den Sachverständigen keine Rolle gespielt habe, berichtete die Regionalzeitung »Westfalen-Blatt«.

Keine ausblutenden Schweinehälften und Bolzenschüsse bekommt man in Lokshinas Film zu Gesicht. Dafür umso dringlichere Grausamkeiten und Zynismen von Mensch zu Mensch, die durch Gesetze ermöglicht und gebilligt werden. Kontrast zu den Schilderungen von moderner Sklavenarbeit bieten Szenen aus einer anderen Welt am anderen Ende der Republik und des Wohlfahrtsstaats. In Bayern inszeniert die Theatergruppe eines Gymnasiums Brechts Klassiker »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«. Junge Menschen, die nicht von derartigem Überlebensdruck wie die bei Tönnies beschäftigten Osteuropäer betroffen sind, haben in der Regel mehr Zeit zum Denken. Brechts zeitlose Analyse der Unmöglichkeit von »Sozialdemokratie« und »menschenfreundlichem« Kapitalismus stößt ihnen in der Diskussion mit dem Lehrer keineswegs sauer auf. Nicht existenziell mit der absurden Logik des Status Quo konfrontiert, scheinen sie noch offen für Ideen, die hierzulande als marxistisch oder gar linksradikal gelten, für noch zur Empathie fähige Menschen aber eigentlich natürlich sein müssten.

Eine ältere Frau sieht das im filmischen Interview anders. Auf die Frage, was man denn gegen Ausbeutung, Rechtsbeuge, Unmoral unternehmen müsste, ist sie im Kern ratlos. »Der Wandel muss aus der Gesellschaft heraus kommen!« spricht sie, ist damit auf SPD-Linie und deutlich esoterischer als ein katholischer Pfarrer, der vom konkreten gesellschaftlichen Wandel im Geiste des christlichen Mitgefühls für die Armen predigt. Konkrete Maßnahmen hingegen fordert Inge Bultschnieder, Initiatorin der Interessengemeinschaft WerkFAIRträge, die tagtäglich mit den Auswirkungen guter Vorsätze und leerer Versprechen von allen Seiten konfrontiert wird.

Yulia Lokshina schafft es all diese widersprüchlichen Eindrücke von den Deutschen, ihrer Bundesrepublik und deren Opfer in all ihrer bedrückenden Stille zu vermitteln, ohne daraus ein plumpes Lehrstück werden zu lassen. Sie hat 92 Minuten hochintelligentes Kino geschaffen, die den Max-Ophüls-Preis für den besten Dokumentarfilm zurecht gewonnen haben.

»Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkei«, Buch und Regie: Yulia Lokshina, Deutschland 2020, 92 Min.

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