Die falschen Wörter weglassen

Best of Menschheit, Teil 35: Sprache

  • Tim Wolff
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Rückblick erscheint es so, als wäre der Homo sapiens genetisch zur Sprache programmiert. Ein Wesen, das seiner Umwelt allein gefährlich unterlegen ist, benötigt präzise Kommunikation. Oder eben andersherum: Nur dank der Komplexität menschlicher Kommunikation konnte diese Spezies den Rest der Natur unterjochen und sich ihr entfremden.

Eine Theorie besagt ungefähr, dass die Ursache des menschlichen Sprechens im aufrechten Gang liegt. Wo auch immer der herkam; womöglich war es ein evolutionärer Vorteil, über das Savannengras blicken zu können. Jedenfalls braucht das Aufrechte anatomisch ein schmaleres Becken. Weswegen die frühen Menschenmütter sich im Vergleich zu anderen Säugetieren in eine vorzeitige Geburt »unfertigen« Nachwuchses evolutionierten. Die Geburt nach eigentlich voller Schwangerschaft war beim fürs schmale Becken zu groß gewachsenem Kind häufig tödlich.

Der Mensch war (und ist) also eine nesthockende Frühgeburt, die nicht nur der Kooperation der Gruppe bedarf, sondern dessen Hirn außerhalb des Mutterkörpers nachreifen kann und muss. Je besser das unausgereifte Hirn das Grunzen der Sippe weiterverarbeitete, desto größer wurden die Möglichkeiten, die Umwelt zu beherrschen und neue Ebenen der Sprache zu entwickeln. Was immer an dieser Theorie dran ist, es ist eine sehr schöne Vorstellung, dass die Gute-Nacht-Geschichte im Ursprung der höheren Intelligenz steht.

Sprache ist so basal, dass die Menschen, auch nachdem sie sich über Hunderttausende Jahre über den Planeten verteilt und biologisch oberflächlich auseinander entwickelt hatten, ruckzuck die fremden Sprachen derer Artgenossen erlernen konnten, die weit weg lebten. Gut, meistens mit dem Antrieb, die anderen zu bestehlen, zu einem Glaubensquatsch bekehren oder zu meucheln - aber das dürfte nicht dem zwischenmenschlichen Sprachverständnis geschuldet gewesen sein.

Natürlich ist Sprache nicht per se gut, man kann schon erstaunlichen Mist mit ihr anstellen, aber sie schafft die einzige Welt, in der Menschen überhaupt leben können. Sie ist, selbst ohne Schrift, das kollektive Gedächtnis. In der Etymologie einzelner Wörter stecken Jahrtausende Geschichte. Dabei ist das Sprechen des Menschen in Wirklichkeit unpräzise, der Unterschied zwischen dem Gedachten und Gesagten oder gar Geschriebenen teilweise beachtlich. Zum Beispiel klang manche Passage dieses Textes in meinem Kopf viel besser, als sie nun hier steht. Auf der Strecke vom fast wortlosen Gedanken bis zur Niederschrift geht so manches verloren oder kommt manch unnötiges hinzu.

»Schreiben ist ganz einfach, man muss nur die falschen Wörter weglassen«, wie Mark Twain eigens für Poster in literaturwissenschaftlichen Bibliotheken diese Unwucht menschlicher Mitteilung formulierte. Weil es so schwierig ist, die falschen Wörter wegzulassen, erstaunt es immer wieder, wie gut die richtigen an der richtigen Stelle sind, wie einzelne Wörter selbst aus tausendmal Gehörtem plötzlich hervorspringen können und Sinn stiften. Das »really« in dieser Zeile des längst durch circa 30, zum Teil abstoßenden Verwertungszyklen gegangenen Louis-Armstrong-Liedes »What a wonderful world« bezaubert mich immer wieder: »I see friends shaking hands, saying ›How do you do?‹ They’re really saying ›I love you‹.«

Dieser sanfte Zweifel am behaupteten Daseinsglück in diesem einen Wort gibt dem Lied eine profunde Naivität und macht die Begeisterung erstaunlicherweise echt. Die sagen das wirklich! Obwohl es so etwas Unwahrscheinliches ist, dass es Liebe gibt und sie mit nur drei Wörtern zu übermitteln ist. Dieses eine Wort macht aus einer Floskel, einer Routine für ein kitschiges Lied, eine profunde Freude an den Möglichkeiten des Lebens. Es verteidigt den Mensch gegen die Mühlen des Zynismus, die er sich geschaffen hat. Wundervoll.

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