Ohne moralische Vorbehalte erreicht man viel mehr

Schon als Buchhändler war Christoph Mann eigentlich Seelsorger. Dann wechselte er den Beruf auch offiziell und wurde Psychotherapeut und Coach. Oft für Geflüchtete

  • Interview: Negin Behkam
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie arbeiten als Coach oft mit Geflüchteten, waren auch mal Heimleiter einer queeren Geflüchtetenunterkunft. Wieso?
Als im Jahr 2015 viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, fand ich die Reaktionen der meisten Menschen in Deutschland super. Vorher hatte ich nie das Gefühl, dass ich auch mal stolz sein könnte, ein Deutscher zu sein. Ich hatte schon einen politischen Hintergrund und habe zudem im sozialen Bereich gearbeitet. Als die Schwulenberatung Berlin die queere Geflüchtetenunterkunft in Treptow aufgebaut hat, dachte ich, was soll’s, man muss in den sauren Apfel beißen und so ein Camp schaffen. Auch wenn ich es besser fände, die Menschen dezentral unterzubringen.

Was ist Ihr politischer Hintergrund?
Ich habe als junger Erwachsener sowohl hauptamtlich im schwulen Bereich gearbeitet, als auch im schwulen Buchladen Lavendelschwert in Köln meine Ausbildung zum Buchhändler gemacht. Damals war die Aids-Krise ziemlich groß.

In den 80er Jahren?
Ja, das war Ende der 80er. Der Laden war um die Ecke vom Kölner Neumarkt, wo sich das Gesundheitsamt befindet. Dorthin kamen viele für einen anonymen HIV-Test. Ein positives Ergebnis war damals wie ein Todesurteil. Oft kamen die Leute nach dem Test zu uns ins Lavendelschwert und brachen dort zusammen.

Sie hatten damals schon täglich mit Menschen in schwierigen Situationen zu tun und wurden später Coach und Psychotherapeut. Jeden Tag mit Sorgen und Ängsten konfrontiert werden - das macht Ihnen nichts aus?
Nein. Meine Arbeit ist sehr spannend und macht mir Spaß. Das ist wie beim Lesen. Ich lese, weil ich andere Leben kennenlernen möchte. Während dieser Arbeit lernst du auch andere Leben kennen.

Arbeiten Sie auch aktuell mit Geflüchteten?
Ich habe mit vielen den Kontakt aufrechterhalten und sie im Jobcoaching übernommen.

Also bei Ihnen blieb es nicht bei dieser kurzfristigen Euphorie, wie bei manchen Deutschen im Jahr 2015?
Ich glaube, das war bei den meisten mehr als nur eine kurzfristige Euphorie. Ich kenne viele, die 2015 angefangen haben, in diesem Bereich zu arbeiten und da weiterhin hochaktiv sind. Darüber wird aber nicht viel berichtet, weil es keine Neuigkeit mehr ist. Klar, es gab Menschen, die kurz in der Geflüchtetenarbeit aktiv waren und dann gemerkt haben, dass das gar nicht so einfach ist - und man kriegt auch nicht ständig die Füße geküsst. Sie haben aufgegeben, aber die meisten nicht, ich auch nicht.

Gibt es die queere Geflüchtetenunterkunft noch, in der Sie auch mal gearbeitet haben?
Ja, die gibt es noch. Die Herkunftsländer haben sich nur in der letzten Zeit sehr geändert. Zu meiner Zeit waren es vor allem Leute aus Syrien, Iran und Irak, jetzt mehr aus den afrikanischen Ländern.

War die Arbeit in der Unterkunft sehr anstrengend, oder warum arbeiten Sie dort nicht mehr?
Ich hatte irgendwann Probleme mit der Schwulenberatung Berlin als Organisation. Wenn du so eine Unterkunft für bestimmte Gruppen leitest, musst du dich dazu auch politisch positionieren. Die Schwulenberatung hat aber nur eine sozialpädagogische Rolle für sich gesehen. Ich glaube, sie haben diese politische Dimension nicht richtig verstanden.

Wie sollte man sich in der Geflüchtetenfrage positionieren?
Wenn die EU eine Mauer, die brutaler ist als die Mauer, die durch Deutschland ging, an der EU-Außengrenze aufbaut und Menschen gnadenlos ertrinken lässt, muss ich das auch anprangern, wenn ich in der Geflüchtetenarbeit unterwegs bin.

Was sind die großen Herausforderungen in der Arbeit mit queeren Geflüchteten?
Am Anfang gab es viele Überlegungen, für die wir noch keine Lösung gefunden hatten: Was ist, wenn beispielsweise eine Transfrau mit ihrem Partner da einzieht? Wie queer ist der Partner einer Transfrau?

Lebt man nicht selbst auch queer, wenn man mit einem queeren Menschen zusammen ist?
Wenn jemand gerade noch in der Transition ist oder sie gerade hinter sich hat, und vom Selbstverständnis her eine Frau ist, und ich bin der männliche Partner, wie queer bin ich? Das ist die Frage! Auch ist die Frage, wie queer ist eine Frau oder ein Mann nach der Transition? Die Leute entwickeln dadurch nicht automatisch ein queeres Bewusstsein, sondern es gibt auch Menschen, die sagen, ich bin jetzt eine Frau, und ich will mich nicht mehr an mein Trans-Sein erinnern.

Durfte letztlich eine Transfrau mit ihrem Partner in der Unterkunft einziehen?
Zuerst nein. Bis zu dem Zeitpunkt, als der Sicherheitsdienst mich angerufen und gesagt hat: Wir haben hier zwei Leute sitzen, die eine Unterkunft brauchen, weil sie aus der anderen Unterkunft wegen Gewalterfahrung raus sind. Das war eine Transfrau mit ihrem Kerl. Ich sagte: »Okay! Ich kann sie jetzt nicht wegschicken.« Ich habe während dieser Arbeit auf jeden Fall viel gelernt, was man nicht theoretisch überlegen kann, sondern man im Leben lernen muss.

Was finden Sie wichtig zu wissen, wenn man mit Geflüchteten arbeitet?
Man darf die Leute nicht viktimisieren. Ich ziehe den Hut vor Menschen, die es schaffen, sich aus Syrien, Iran oder Irak auf die Flucht zu begeben und das zu überstehen. Für diese Menschen brauchen wir viel emanzipiertere Formen des Umgangs.

Wie sieht diese emanzipierte Form aus?
Wir hatten beispielsweise in der queeren Unterkunft viele Geflüchtete, die auf den Strich gingen, einfach weil das Taschengeld, das sie bekamen, sehr gering war. Die meisten von ihnen haben das über das Dating-Portal Romeo gemacht, das auch eine spezielle Unterseite für Sexworker hat.

Und wie haben Sie sich da emanzipiert verhalten?
Ich habe ihnen gesagt: »Ich persönlich finde es in Ordnung - wenn ihr das freiwillig tut. Guckt aber, dass die Rahmenbedingungen in Ordnung sind. Das ist wichtig, weil die Leute im Tiergarten mal nur fünf Euro bekommen haben, obwohl sie mindestens 50 hätten bekommen müssen.

Sie würden Menschen aus so einer Situation nur dann herausholen, wenn sie es selbst wollen?
Genau! Und ohne moralische Vorbehalte. So erreichst du viel mehr. Wenn du es verbietest, hast du 1000 Leute, die das tun, aber du erreichst sie nicht und kannst sie nicht mehr unterstützen, zum Beispiel beim Thema Safer Sex. Wir haben in der Unterkunft immer kostenlose Kondome und Gleitgel ausgelegt. Manche Menschen haben gesagt, das ist eine Aufforderung. Ich sagte aber, manche haben so wenig Kohle oder wissen vielleicht nicht, wo sie sich Kondome besorgen können. Und wir wissen alle, in der Unterkunft findet Sex statt.

Schwule Männer aus dem Mittleren und Nahen Osten werden manchmal fetischisiert und als Sexobjekt behandelt.
Das Problem hatten wir mit manchen Ehrenamtlichen. Daher habe ich mit potenziellen Ehrenamtlichen zuerst Gespräche über ihr Motiv geführt, bei uns anzufangen. Es gibt diese Legende, dass junge Araber auf ältere dicke Deutsche stehen. Das ist aber nicht wahr! Schön wäre es (lacht).

Wie ist es, wenn Sie sich als Coach in Ihre*n Klient*in verlieben?
Es ist nicht verboten, aber ich finde, es ist nicht okay, weil das das Coaching-Verhältnis beeinflusst. Genauso ist das bei Berufen in der sozialen Arbeit. In der queeren Unterkunft hatten wir das Problem. Wir hatten einen Sozialarbeiter, der das Heim als Kennenlernort begriffen hat.

Theoretisch darf man es aber.
Ich würde in den Arbeitsvertrag schreiben, das das nicht geht. In so einer Unterkunft sind die Menschen stark von den Mitarbeitern abhängig.

Widerspricht das nicht Ihrer Aussage zur Prostitution? Anschaffen gehen ist okay, aber sich in den Sozialarbeiter verlieben nicht?
Es geht um Macht. Als Coach oder Sozialarbeiter*in habe ich in der Beziehung die Macht. Bestraft werden soll nicht die geflüchtete Person, sondern der*die Sozialarbeiter*in bekommt eine Abmahnung.

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