Woher kommt Hass?

Eine Philosophie der Gefühle

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 3 Min.

Was eint Dating-Shows mit Hate Speech im Netz? Oder das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung mit individualisierten Werbebotschaften? All diesen Phänomenen ist ein epochales Signum gemein, nämlich das Gefühl. Überall - vom TV bis in die hohe Politik, von der Straße bis in die Kunst - kochen Emotionen hoch oder werden mitunter manipulativ erzeugt und eingesetzt. Nicht zuletzt deshalb vernimmt man allenthalben die Rufe nach einer neuen Aufklärung. Dabei sind urmenschliche Affekte nicht per se problematischer Natur. Statt sie sogleich zu verurteilen, bemühen sich Charlotte Casiraghi und Robert Maggiori in ihrem Buch »Archipel der Leidenschaften. Kleine Philosophie der großen Gefühle«, sie zunächst zu verstehen sowie mit Geschick und Verstand philosophisch zu ergründen.

Frei von Widersprüchen sind unterdessen die wenigsten inneren Regungen. So wird die Ekstase einerseits »zum Ort einer Wahrheit, die aus den reinsten körperlichen Empfindungen« hervorgeht, andererseits birgt sie in ihrem mitreißenden Charakter stets die Gefahr des Selbstverlusts. Dasselbe gilt für die Melancholie. Wenn uns die Schwermut in träumerische Tiefen versetzt, kann sie heilsame Effekte hervorrufen. Dennoch wohnen auch ihr bisweilen selbstzerstörerische Potenziale inne. Solcherlei Beobachtungen, zumeist gestützt durch theoretische Grundlagentexte - von Søren Kierkegaard bis Claude Lévi-Strauss -, tragen zu einer lesenswerten Vermessung unseres Gefühlshaushalts bei.

Ihre eigentliche Brisanz legen die jeweils einzelnen Affekten zugeordneten Miniaturtexte allerdings in jenen Passagen an den Tag, die sich den gesellschaftlichen Auswirkungen von Emotionen widmen. Zum Beispiel bei der differenzierten Annäherung an den Stolz. Normalerweise ergibt er sich aus einer vollbrachten Leistung. Zunehmend muss er darüber hinaus für eine identitätspolitische Ausgrenzung herhalten. Wie die Autoren zu Recht anführen, läuft diese Dehnung der Definition im Sinne eines Stolzes auf eine nationale Zugehörigkeit auf eine Entleerung des Begriffs hinaus. Er bindet sich dann nicht mehr an ein gemeinsam geschaffenes Drittes und schließt überdies den unmittelbar an ihn gekoppelten Respekt aus.

Ähnlich lässt sich der Hass beschreiben, der sicherlich zu den derzeit wirkungsmächtigsten Fieberschüben im öffentlichen Diskurs gehört. Von Freud herkommend, bestimmen ihn Casiraghi und Maggiori als eine »Wiege der Kultur«. Erst durch ihn, der sich dem Psychoanalytiker zufolge schlimmstenfalls im Vatermord äußere, hätten moderne Gesellschaften ihr Fundament auf Regeln und Gesetzen gebaut und sich einen Kompass gegeben. Wer indes von außerhalb in dieses künstlich hergestellte Terrain Einlass ersucht, erlebt den »Narzissmus der kleinen Unterschiede, der den Hass dazu treibt, … nach kleinsten Kriterien für die Unähnlichkeit und Fremdheit zu suchen«. Diese Erkenntnis liefert wie so viele weitere im Buch zwar noch keine Lösungen. Treffende Diagnosen sind jedoch schon ein großer Gewinn.

Charlotte Casiraghi und Robert Maggiori: Archipel der Leidenschaften. Kleine Philosophie der großen Gefühle. C. H. Beck. 342 S., geb., 20,99 €.

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